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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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als
    Zeltdach dient, wäre es hier wohl kaum auszuhalten.
    Um 5 Uhr nehmen wir gemeinsam einen Imbiß ein,
    der aus Schiffszwieback, gedörrtem Fleisch und einem
    halben Glas Wasser pro Mann besteht. Mrs. Kear, die
    in heftigem Fieber daniederliegt, ißt nichts. Mrs. Her-
    bey vermag ihr nur dadurch einige Erquickung zu ver-
    schaffen, daß sie die brennenden Lippen der Kranken
    von Zeit zu Zeit benetzt. Die unglückliche Frau leidet
    schwer; ich bezweifle, daß sie diesen Zustand lange aus-
    halten wird.
    Ihr Mann hat sich auch nicht einmal nach ihr er-
    kundigt. Gegen viertel vor 7 aber scheint es doch, daß
    das Herz dieses Egoisten zu schlagen beginnt. Mr. Kear
    ruft nach einigen Matrosen vom Vorderdeck und bit-
    tet sie, ihm zum Verlassen des Besanmasts behilflich zu
    sein. Will er sich nun vielleicht zu seiner Frau nach dem
    Großmast begeben?
    Die Matrosen beachten den Ruf Mr. Kears nicht so-
    — 155 —
    fort. Dieser wiederholt seine Bitten dringender und
    verspricht denen eine gute Belohnung, die ihm diesen
    Dienst leisten würden.
    Jetzt begeben sich zwei Matrosen, Burke und Sandon,
    über die Schanzkleidung hin nach dem Besanmast und
    steigen nach dem Mastkorb.
    Mit Mr. Kear feilschen sie lange um die Bedingungen
    für ihre Bemühung. Offenbar verlangen sie viel, und der
    Erdölbaron will nur wenig geben. Schon schicken sich
    die Seeleute wieder an, den Passagier an seinem Platz
    zurückzulassen. Endlich wird man einig und Mr. Kear
    zieht ein Päckchen Papierdollars hervor, das er dem ei-
    nen Matrosen gibt. Dieser zählt die Summe sorgfältig
    durch, und es scheint mir, daß er mindestens 100 Dollar
    in der Hand hat.
    Es geht nämlich, wie ich gewahr werde, darum, Mr.
    Kear längs der Besanstagen nach dem Vorderkastell zu
    befördern. Burke und Sandon umwickeln jenen mit ei-
    nem Tau, das sie um die Stagen schlingen; dann lassen
    sie ihn unter Nachhilfe einiger Rippenstöße wie ein
    Kolli vor sich hergleiten, was nicht ohne ein spöttisches
    Gelächter ihrer Kameraden abgeht.
    Aber ich hatte mich getäuscht. Mr. Kear fiel es gar
    nicht ein, seine Frau im Mastkorb aufsuchen zu wol-
    len. Er bleibt auf dem Vorderkastell in Gesellschaft Silas
    Huntlys, und die eintretende Dunkelheit verwehrt mir,
    weiteres zu erkennen.
    — 156 —
    Die Nacht bricht an; der Wind hat sich gelegt, aber
    die See geht hohl.
    Der Mond, schon seit 4 Uhr nachmittags am Hori-
    zont, wird nur dann und wann zwischen Wolkenstreifen
    sichtbar. Die niedrigeren färben sich am Horizont mit
    rötlichem Ton, was für morgen eine steife Brise erwar-
    ten läßt. Gott gebe, daß sie aus Nordosten weht und uns
    auf das Land zu treibt, denn jede andere Windrichtung
    wäre für uns verderblich, wenn wir erst auf dem Floß
    eingeschifft sind, das nur mit dem Wind im Rücken ei-
    nige Fahrt machen kann!
    Robert Kurtis ist gegen 8 Uhr nach unserem Mast-
    korb gekommen. Ich bin der Meinung, daß ihm der An-
    blick des Himmels Sorge bereitet und er im voraus be-
    obachten will, was für Witterung morgen sein werde.
    Eine Viertelstunde lang beobachtete er; dann drückt er
    mir, vor dem Herabsteigen, ohne ein Wort zu sagen, die
    Hand und nimmt seinen Platz auf dem Oberdeck wie-
    der ein.
    Ich versuche auf dem beengten Raum des Mastkorbs
    zu schlafen, kann aber nicht dazu gelangen. Böse Ah-
    nungen beunruhigen mich. Die Atmosphäre kommt mir
    »gar zu ruhig« vor. Kaum streicht von Zeit zu Zeit ein
    Lüftchen durch das Takelwerk und läßt die Metallfäden
    darin ertönen. Indessen, das Meer »fühlt« etwas, denn
    es bleibt in hochgehender Bewegung und unterliegt of-
    fenbar der Rückwirkung eines entfernten Sturms.
    — 157 —
    Gegen 11 Uhr nachts leuchtet einmal der Mond mit
    hellem Schein in dem Zwischenraum zweier Wolken,
    und das Wasser erglänzt, als würde es von unten her er-
    hellt.
    Ich erhebe mich und blicke hinaus. Sonderbar. Ich
    glaube einige Augenblicke einen dunklen Punkt wahr-
    zunehmen, der sich mitten in der intensiven Weiße der
    Wellen hebt und senkt. Ein Felsen kann das nicht sein,
    da er die Bewegung der See mitmacht, und wahrschein-
    lich hat mich eine Illusion getäuscht.
    Dann verschleiert sich der Mond von neuem, und es
    wird tief dunkel, so daß ich mich nahe der Backbord-
    strickleiter wieder niederlege.
    27
    6. Dezember. – Ich habe einige Stunden schlafen kön-
    nen. Um 4 Uhr morgens weckt mich das Pfeifen des
    Windes, und ich vernehme Robert Kurtis’ Stimme, die
    noch das Brausen der Windstöße, unter denen die

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