Die Chancellor
Vier-
teln versunkene Schiffsrumpf wird wie eine Klippe von
den Wellen gepeitscht. Der Schaum spritzt bis zu den
Mastkörben hinauf, und unsere Kleidungsstücke wer-
den wie von einem feinen Regen durchnäßt.
Über der Meeresoberfläche befinden sich von der
›Chancellor‹ noch folgende Teile: die drei Masten mit
den Mastkörben, das Bugspriet, an dem man jetzt die
Jolle aufgehängt hat, um sie vor dem Anprall der Wogen
zu sichern, ferner das Oberdeck und das Vorderkastell,
beide nur durch den schmalen Rahmen der Schanzklei-
dung verbunden. Das Verdeck dagegen befindet sich
vollständig unter Wasser.
Die Kommunikation zwischen den Mastkörben ist
sehr beschwerlich; allein die Matrosen, die an den Sta-
gen hinklettern, können sich von dem einen zum an-
deren hin begeben. Unter ihnen, zwischen den Masten
vom Hackbord bis zum Vorderkastell schäumt das Meer,
wie über einem Riff, und löst nach und nach die Wände
des Schiffes ab, deren Planken man zu erhaschen sucht.
Für die auf die engen Plattformen geflüchteten Passa-
giere gewährt es ein erschütterndes Schauspiel, unter
ihren Füßen den Ozean zu sehen und zu hören. Die aus
dem Wasser emporragenden Masten erzittern bei jedem
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Wellenschlag, und man könnte glauben, daß sie wegge-
rissen werden müßten.
Besser ist es, die Augen zu schließen, und gar nicht
nachzudenken, denn dieser Abgrund übt eine eigene
Anziehungskraft aus, und man fühlt die Versuchung,
sich hineinzustürzen!
Inzwischen ist die gesamte Mannschaft unablässig mit
der Herstellung eines zweiten Floßes beschäftigt. Dabei
finden die Obermasten, die Marsrahen und Bramsten-
gen Verwendung und man widmet unter Robert Kurtis’
Leitung dieser Arbeit alle mögliche Sorgfalt. Die ›Chan-
cellor‹ scheint wirklich nicht weiter zu sinken; wie der
Kapitän es vorausgesagt hat, wird sie sich voraussicht-
lich eine Zeitlang im Wasser schwebend halten.
Robert Kurtis achtet also darauf, daß das Floß so so-
lide wie möglich gebaut wird.
Die Überfahrt wird bei der noch immer beträcht-
lichen Entfernung zur nächsten Küste, der von Guyana
nämlich, lange Zeit in Anspruch nehmen. Es empfiehlt
sich also, lieber einen Tag länger in den Mastkörben
auszuharren, und sich die nötige Zeit zur Erbauung ei-
nes schwimmenden Gerüsts zu nehmen, auf das man
sich einigermaßen verlassen kann.
Die Matrosen selbst haben sich wieder mehr beru-
higt, und jetzt geht die Arbeit ungestört vonstatten.
Einzig ein alter, etwa 60jähriger Seemann, dem Bart
und Haar im Seewind gebleicht sind, ist nicht der An-
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sicht, die ›Chancellor‹ zu verlassen. Es ist ein Ire, mit
Namen O’Ready.
Als ich mich eben auf dem Oberdeck befand, gesellte
er sich zu mir.
»Mein Herr«, beginnt er und schiebt mit bewun-
dernswerter Gleichgültigkeit sein Priemchen im Mund
hin und her, »meine Kameraden haben die Absicht, das
Schiff zu verlassen. Ich nicht. Ich habe schon neunmal
Schiffbruch erlitten – viermal auf offener See, fünf-
mal an der Küste. Es ist mein eigentliches Geschäft, zu
scheitern. Ich kenne das aus dem Grund. Nun, Gott soll
mich verdammen, wenn ich nicht immer die Hasen-
herzen habe elend umkommen sehen, die sich auf Flö-
ßen oder Booten zu retten suchten! Solange ein Kasten
schwimmt, soll man drauf bleiben. Lassen Sie sich das
gesagt sein!«
Nach diesen sehr bestimmt gesprochenen Worten,
die die alte irische Wasserratte zur Beruhigung seines
eigenen Gewissens von sich zu geben schien, versank
der Mann wieder in ein vollkommenes Schweigen.
Am selben Tag bemerke ich auch, gegen 3 Uhr nach-
mittags, Mr. Kear und den Ex-Kapitän Silas Huntly im
Mastkorb des Besanmasts in eifrigem Gespräch. Der
Ölhändler scheint dem anderen heftig zuzusetzen, und
dieser einem Vorschlag des genannten Mr. Kear gewisse
Einwürfe entgegenzuhalten. Lange Zeit betrachtet Si-
las Huntly wiederholt das Meer und den Himmel, und
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schüttelt mit dem Kopf. Endlich, nach einer Unterhal-
tung von einer Stunde, gleitet er an den Besanstagen bis
zur Spitze des Vorderkastells, mischt sich unter die Ma-
trosen, und ich verliere ihn aus den Augen.
Übrigens erscheint mir dieser Vorfall ohne Bedeu-
tung, und ich steige wieder nach dem Großmast hinauf,
wo die Herren Letourneur, Miss Herbey, Falsten und
ich noch einige Stunden im Gespräch verbringen. Die
Sonne brennt gewaltig, und ohne das Segel, das uns
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