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Die Chancellor

Die Chancellor

Titel: Die Chancellor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Luft, die uns verzehrt, ein wenig Wasserdunst bei-
    mische, daß er die unausstehliche Hitze mäßige, welche
    die feurige Sonne vom Zenit herabgießt.
    Der Abend ist gekommen, und bis Mitternacht, d.h.
    bis zu der Stunde, da der Mond aufgeht, der in sein letz-
    tes Viertel tritt, wird es dunkel sein. Die etwas verschlei-
    erten Sternbilder flimmern nicht mit dem hellen Licht
    der kalten Nächte.
    Eine Beute eines wahrhaften Deliriums und unter der
    Qual des fürchterlichsten Hungers, der sich immer mit
    Anbruch des Tages zu verdoppeln scheint, strecke ich
    mich auf einen Haufen Segel, die am Steuerbord liegen,
    und neige mich über das Wasser, um seine Frische ein-
    zuatmen.
    Wie viele meiner Gefährten, die an ihrem gewohn-
    ten Platz liegen, mögen wohl im Schlummer ein Ver-
    gessen ihrer Leiden finden? Vielleicht keiner! Was mich
    betrifft, so ist mir der Kopf wüst und leer und von ängst-
    lichem Alpdrücken belastet.
    Inzwischen bin ich einer krankhaften Betäubung, die
    weder Wachen noch Schlaf zu nennen ist, verfallen, und
    es ist mir unmöglich, anzugeben, wie lange ich mich in
    diesem Zustand der Prostration befunden hatte, als ich
    plötzlich durch ein eigentümliches Geräusch wieder zu
    mir kam.
    — 269 —
    Ich glaubte zu träumen, denn meine Nase traf ein an
    Bord ganz unbekannter Duft, den der Wind mir dann
    und wann zuwehte. Meine Nasenlöcher erweiterten sich
    . . . »Was bedeutet dieser Geruch!« bin ich schon ver-
    sucht auszurufen . . . eine Art Instinkt hält mich davon
    zurück, und ich suche, so wie man in seinem Gedächt-
    nis einem vergessenen Wort oder Namen nachzuspüren
    pflegt.
    Einige Augenblicke vergehen so. Die Intensität jener
    Ausdünstung, die stärker zu werden scheint, läßt mich
    sie gieriger aufsaugen.
    »Das ist ja aber«, sage ich mir plötzlich, wie ein
    Mensch, der sich besonnen hat, »das ist ja der Geruch
    von geräuchertem Fleisch.«
    Noch einmal suche ich mich zu versichern, daß
    meine Sinne mich nicht getäuscht haben, und doch, auf
    diesem Floß . . .
    Ich erhebe mich auf die Knie, ich rieche von neuem,
    ich, man verzeihe mir den Ausdruck – ich durch-
    schnüffle diese Luft ringsum; und noch einmal trifft je-
    ner Geruch meine Nase. Also befinde ich mich unter
    dem Wind von jenem lieblich duftenden Gegenstand,
    und folglich ist er auf dem Vorderteil des Floßes zu su-
    chen.
    So schleiche ich denn, kriechend wie ein Tier, von
    meinem Platz und stöbere überall, nicht mit den Augen,
    aber mit der Nase umher, gleite unter den Segelstücken
    — 270 —
    hin, in und durch das Untergestell, immer mit der Vor-
    sicht einer Katze, um die Aufmerksamkeit meiner Ge-
    fährten nicht zu erregen.
    Einige Minuten lang krieche ich so in alle Winkel,
    vom Geruch wie ein Spürhund geführt. Bald verliere
    ich die Spur, entweder wenn ich mich zu weit von ihr
    entfernte, oder der Wind sich vollkommen legte, und
    bald trifft mich die Ausdünstung mit erneuter Stärke.
    Endlich bin ich imstande, die Spur festzuhalten, ihr zu
    folgen, und ich fühle es gleichsam, daß ich jetzt auf den
    Gegenstand meiner Nachforschung direkt zugehe!
    Da erreiche ich im Vorderteil die Ecke am Steuerbord
    und erkenne jetzt deutlich, daß jener Geruch von einem
    Stück geräucherten Speck herrührt. Nein, ich täusche
    mich nicht; es ist mir, als ob alle Nervenpapillen meiner
    Zunge vor Verlangen sich strotzend erhöben!
    Jetzt schlüpfe ich unter einen dicken Haufen Segel-
    werk. Niemand sieht mich, niemand hört mich. Ich
    gleite auf den Knien, auf den Ellenbogen hin. Ich stre-
    cke den Arm aus, und meine Hand erfaßt einen in Pa-
    pier gewickelten Gegenstand. Schnell hole ich ihn her-
    vor und sehe ihn beim Schein des Mondes, der gerade
    jetzt über den Horizont emporsteigt, näher an.
    Es ist keine Illusion! Ich halte ein Stück Speck in der
    Hand, kaum ein Viertelpfund, doch das vermag für ei-
    nen ganzen Tag meine Qualen zu stillen, und schnell
    führe ich es zum Mund.

    — 271 —
    — 272 —
    Da hält eine andere Hand meine zurück. Ich drehe
    mich um, kaum kann ich mich eines Murrens enthalten,
    und erkenne den Steward Hobbart.
    Jetzt wird mir alles klar; das eigentümliche Beneh-
    men Hobbarts, seine relativ gute Gesundheit, seine er-
    heuchelten Klagen. Bei Gelegenheit des Schiffbruchs
    hat er einigen Mundvorrat zu bergen gewußt, den er in
    einem Versteck unterbrachte, und er hat sich genährt,
    während wir anderen vor Hunger sterben wollten! Oh,
    der Schurke!
    Doch nein! Hobbart hat

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