Die Chancellor
ausreichen, denn das Tier wehrt sich
furchtbar. Wir ziehen ganz gleichzeitig an, und nach
und nach kommen die oberen Wasserschichten von
dem heftigen Peitschen des Schwanzes und der gro-
ßen Brustflossen des Ungeheuers in Aufruhr. Ich beuge
mich hinaus und sehe den enormen Körper, der sich in-
mitten blutig gefärbter Wellen windet.
»Tapfer! Fest daran!« ruft der Hochbootsmann.
Endlich taucht der Kopf des Tieres auf. Unser Haken
ist ihm durch den geöffneten Rachen bis in den Schlund
eingedrungen und hat sich dort so festgesetzt, daß ihn
keine Zuckung und kein Stoß wieder herauszureißen
vermag. Daoulas ergreift schon eine Axt, um das Tier,
wenn es nah genug heran sein wird, zu erschlagen.
Da läßt sich ein kurzes, eigentümliches Geräusch ver-
nehmen. Der Haifisch hat seine mächtigen Kiefern ge-
schlossen, den langen Stiel des Beils glatt durchgebis-
sen, und schnell entweicht er in die grünliche Tiefe.
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Ein allgemeiner Aufschrei der schmerzlichen Enttäu-
schung entringt sich uns!
Der Hochbootsmann, Robert Kurtis und Daoulas
versuchen auch noch weiter, obgleich sie nun keinen
Haken und kein irgend brauchbares Ersatzmittel da-
für mehr haben, einen jener Haie zu fangen. Sie werfen
Taue mit Schlingen ins Wasser, doch diese Lassos glei-
ten auf der schlüpfrigen Haut jener Quermäuler ab. Der
Hochbootsmann geht sogar so weit, sie dadurch heran-
zulocken, daß er ein Bein hinter dem Floß ins Wasser
hält, selbst auf die Gefahr hin, durch den Biß eines der
Ungeheuer amputiert zu werden . . .
Endlich gibt man diese fruchtlosen Versuche auf, und
jeder schleppt sich auf seinen gewohnten Platz zurück,
in Erwartung des Todes, den jetzt nichts mehr abzu-
wenden imstande ist.
Ich bin aber Robert Kurtis gerade nah genug, um es
zu verstehen, wie der Hochbootsmann ihn leise fragt:
»Kapitän, wann losen wir?«
Robert Kurtis hat zwar nicht geantwortet, aber diese
Frage ist nun doch schon gestellt worden.
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16. Januar. – Wir liegen alle auf den Segeln ausgestreckt,
und die Mannschaft eines vorübersegelnden Schiffes
würde mit Toten bedecktes Treibgut zu sehen meinen.
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Ich leide furchtbar. Könnte ich bei dem jetzigen Zu-
stand meiner Lippen, meiner Zunge, meiner Kehle
überhaupt noch essen? Ich glaube es nicht, und doch
werfen wir alle, meine Gefährten und ich mit, einander
wilde Blicke zu.
Die Hitze ist heute bei gewitterdrohendem Himmel
noch stärker. Dicke Dünste wälzen sich empor, aber ich
will glauben, daß es vielleicht überall regnen kann, nur
über dem Floß nicht.
Dennoch sieht jeder mit begehrlichem Blick diese
Ansammlung von Wolken, und unsere Lippen lechzen
nach ihnen. Auf den Knieen liegend erhebt Mr. Letour-
neur flehend die Hände nach dem unerbittlichen Him-
mel!
Ich lausche, ob irgendein fernes Rollen ein Gewit-
ter verkündet. Es ist 11 Uhr morgens; die Dunstmassen
verdecken jetzt die Sonne vollkommen, doch schon ha-
ben diese ihren elektrischen Charakter merklich einge-
büßt. Offenbar wird sich kein Gewitter entladen, denn
das ganze Gewölk hat eine gleichmäßige Färbung ange-
nommen und seine am Morgen so scharfen Ränder sind
in einer verbreiteten grauen Dunstmasse verschwunden
und verschwommen, die jetzt nur noch einem in der
Höhe schwebenden Nebel gleich zu achten ist.
Doch kann denn dieser Nebel keinen Regen gebären,
und wäre es noch so wenig, wären es nur einige erqui-
ckende Tropfen!
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»Da, der Regen, der Regen!« rief plötzlich Daoulas.
Und wirklich, in einer Entfernung von einer halben
Meile hat der Himmel jene schrägen Striche, die man
beim Regen beobachtet, und ich sehe die Tropfen von
der Wasserfläche wieder in die Höhe springen. Der
Wind, der sich etwas mehr erhebt, treibt sie zu uns.
Möchte diese Wolke sich doch nicht vorher erschöpfen,
bevor sie über uns weggegangen ist!
Gott hat endlich einmal Mitleid mit uns; in großen
Tropfen fällt der Regen, so wie aus einer Gewitterwolke.
Doch ein solcher Platzregen ist niemals von Dauer, und
wir müssen, so schnell es geht, möglichst viel davon auf-
zufangen suchen, denn schon färbt ein hellerer Licht-
schein den unteren Rand der Wolke über dem Hori-
zont.
Robert Kurtis hat die halbzerbrochene Tonne so auf-
stellen lassen, daß sie möglichst viel Wasser aufnehmen
kann, und ringsum spannt man die Segel in der Art auf,
daß sie die größten Oberflächen bieten.
Wir liegen auf dem
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