Die Chancellor
Rücken mit offenem Mund. Das
Wasser benetzt mein Gesicht, meine Lippen, und ich
fühle, daß es in meine Kehle dringt! Oh, unaussprech-
liche Freude! Das ist neues Leben, das in mich einzieht!
Die Schleimhäute meiner Kehle werden bei dieser Be-
netzung wieder schlüpfrig, und ich atme die belebende
Flüssigkeit fast noch mehr ein, als ich sie trinke.
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20 Minuten lang hat der Regen angedauert, dann löst
sich die halberschöpfte Wolke in der Atmosphäre auf.
Wir haben uns gebessert wieder erhoben, ja »gebes-
sert«. Man drückt sich die Hände, man spricht wieder!
Es scheint, als ob wir gerettet wären!
Gott wird uns in seiner Barmherzigkeit noch andere
Wolken senden, die uns noch mehr Wasser bringen wer-
den, Wasser, das wir so lange entbehrt haben!
Und auch das Wasser, das nur auf das Floß gefallen
ist, wird ja nicht verdorben sein, denn die Tonne und
die Leinwand haben es aufgefangen.
Aber es muß sorgsam aufbewahrt und darf nur trop-
fenweise verteilt werden.
In der Tat, die Tonne enthält jetzt 2 bis 3 Pinten Was-
ser, und wenn wir das noch ausdrücken, was die Segel
eingesogen haben, dann vermögen wir unseren Vorrat
noch bis zu einer gewissen Grenze zu vermehren.
Die Matrosen wollen eben zu jener Operation schrei-
ten, als Robert Kurtis sie durch einen Wink daran hin-
dert.
»Einen Augenblick!« ruft er. »Wird dieses Wasser
auch trinkbar sein?«
Ich sehe ihn staunend an. Warum soll dieses Was-
ser, das doch nur vom Regen herstammt, nicht trinkbar
sein?
Indessen drückt der Kapitän ein wenig von dem auf-
gesaugten Wasser einer Segelfalte in die Weißblechtasse,
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kostet es, und zu meiner größten Verwunderung wirft
er sie von sich.
Ich koste nun auch selbst. Das Wasser ist fast noch
salzhaltiger als das Meerwasser selbst!
Das kommt daher, daß die so lange Zeit dem Einfluß
der Wellen ausgesetzten Segel sich mit Salz imprägniert
und dem aufgefangenen Wasser einen sehr hohen Ge-
halt davon mitgeteilt haben. Das ist freilich ein nicht
wieder gut zu machendes Unglück! Doch sei es! Wir
haben ja wieder Vertrauen und in dem Faß sind noch
einige Pinten Wasser übrig! Dazu ist ja einmal Regen
gekommen – er wird auch wiederkehren!
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17. Januar. – Wenn unser Durst für einen Augenblick
gestillt wurde, so erwachte als ganz natürliche Folge da-
von unser Hunger desto wütender. Gibt es denn kein
Mittel, sich ohne Haken oder Köder eines dieser Haie
zu bemächtigen, die sich rings um das Floß tummeln?
Nein, man müßte sich denn selbst ins Meer stürzen, um
mit dem Messer eines dieser Ungeheuer in seinem ei-
genen Element anzugreifen, so wie es die Indianer der
Perlenfischereien tun. Robert Kurtis hat daran gedacht,
dieses Abenteuer zu bestehen. Wir halten ihn zurück.
Die Haifische sind zu zahlreich, und es hieße sich ohne
irgendeinen Nutzen nur einem sicheren Tod weihen.
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Ich mache die Bemerkung, daß, wenn der Durst hin-
weggetäuscht werden kann, etwa durch Eintauchen ins
Wasser oder durch Kauen irgendeines Gegenstands,
es sich mit dem Hunger nicht ebenso verhält, und daß
nichts imstande ist, die eigentlichen Nahrungsmittel
zu ersetzen. Außerdem kann das Wasser Schiffbrüchi-
gen stets durch ein natürliches Ereignis beschert wer-
den, z.B. durch den Regen. Wenn man also niemals zu
verzweifeln braucht, vor Durst zu sterben, so kann man
doch viel leichter durch Hunger wirklich umkommen.
Wir sind nun schon an diesem Punkt angelangt, und
einige meiner Gefährten sehen sich gegenseitig mit
wahrhaft gierigen Augen an. Man vergegenwärtige sich,
auf welchem Abhang unsere Gedanken weiter gleiten
und bis zu welchem Grad der Wildheit die durch ein
einziges Verlangen gereizten Unglücklichen herabkom-
men können!
Seitdem die Gewitterwolken, die uns einen halbstün-
digen Regen beschert, vorüber sind, ist auch der Him-
mel wieder klar geworden. Einen Augenblick frischte
der Wind auf, aber jetzt hat er sich wieder ganz gelegt,
und das Segel schlottert am Mast. Übrigens sehnen wir
ihn uns gar nicht mehr als bewegende Kraft herbei. Wo
befindet sich das Floß? Nach welchem Punkt des Atlan-
tischen Ozeans haben die Strömungen es wohl getrie-
ben? Niemand vermag es zu sagen, noch zu bestimmen,
ob wir den Wind jetzt lieber aus Osten, oder aus Norden
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oder Süden wehen sähen! Wir verlangen nur eines von
ihm, daß er unsere Brust erfrische, daß er der trocke-
nen
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