Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
selbst, waren die verbliebene freie Wandfläche und die kleine Packung Reißnägel, die auf dem Regal lag. Reichlich Platz für weitere Fotos.
    Die Kamera entfernte sich mit einem Schwindel erregenden Schwenk von dem Wandschrank und zeigte wieder das größere Zimmer. Pataki drehte sich langsam im Kreis und filmte eine Couch, einen Fernseher, einen Schreibtisch, ein Telefon. Bücherregale voller medizinischer Lehrbücher. Der Schwenk setzte sich fort, bis der Küchenbereich ins Bild kam. Die Kamera richtete sich auf den Kühlschrank.
    Moore rückte näher an den Bildschirm; sein Hals war plötzlich ganz trocken. Er wusste schon, was sich in diesem Kühlschrank verbarg, und doch spürte er, wie sein Puls sich beschleunigte, wie sich ihm vor Entsetzen der Magen umdrehte, als er Singer auf den Kühlschrank zugehen sah. Singer blieb stehen und blickte in die Kamera.
    »Das haben wir hier drin gefunden«, sagte er und öffnete die Kühlschranktür.

19
    Er machte einen Spaziergang um den Block, und diesmal bemerkte er die Hitze kaum, so sehr hatten ihm die Videobilder das Blut in den Adern gefrieren lassen. Er empfand es schon als Erleichterung, aus dem Besprechungsraum herauszukommen, der für ihn jetzt untrennbar mit dem Entsetzen verknüpft war. Savannah selbst, mit seiner Luft wie zäher Sirup und seinem weichen grünen Licht, bereitete ihm Unbehagen. Boston hatte scharfe Konturen und schrille Geräusche, und jedes Gebäude, jedes finster dreinblickende Gesicht hob sich schroff von seinem Hintergrund ab. In Boston wusste man, dass man am Leben war, und sei es nur, weil man so gereizt war. Hier schien dagegen alles verschwommen. Er sah Savannah wie durch einen Gazevorhang, eine Stadt höflich lächelnder Gesichter und schläfriger Stimmen, und er fragte sich, welche dunklen Geheimnisse seinen Blicken wohl verborgen blieben.
    Als er in das Bereitschaftszimmer zurückkam, fand er Singer damit beschäftigt, etwas auf einem Laptop zu schreiben.
    »Einen Augenblick«, sagte Singer und aktivierte die Rechtschreibprüfung. In seinen Berichten durfte es doch keine Fehler geben, Gott bewahre. Befriedigt blickte er zu Moore auf. »Ja?«
    »Haben Sie je Capras Adressbuch gefunden?«
    »Was für ein Adressbuch?«
    »Die meisten Leute haben ein Adressbuch, das sie in der Nähe des Telefons aufbewahren. Auf dem Video von seiner Wohnung habe ich keines entdeckt, und in der Aufstellung der persönlichen Gegenstände konnte ich auch nichts dergleichen finden.«
    »Das war schließlich vor über zwei Jahren. Und wenn es nicht auf unserer Liste war, dann hatte er eben keins.«
    »Oder es wurde aus seiner Wohnung entfernt, bevor Sie dort eintrafen.«
    »Worauf sind Sie eigentlich aus? Ich dachte, Sie seien gekommen, um Capras Technik zu studieren, nicht um den Fall neu aufzurollen.«
    »Ich interessiere mich für Capras Freunde. Alle, die ihn gut gekannt haben.«
    »Mann, niemand hat ihn gut gekannt. Wir haben mit den Ärzten und den Krankenschwestern gesprochen, mit denen er gearbeitet hat. Mit seiner Vermieterin, mit den Nachbarn. Ich bin sogar nach Atlanta gefahren, um mit seiner Tante zu reden. Seiner einzigen lebenden Verwandten.«
    »Ja, ich habe die Vernehmungsprotokolle gelesen.«
    »Dann wissen Sie auch, dass er sie alle an der Nase rumgeführt hat. Immer wieder habe ich die gleichen Kommentare zu hören bekommen: ›So ein einfühlsamer Arzt! So ein höflicher junger Mann!‹« Singer schnaubte verächtlich.
    »Sie hatten alle keine Ahnung, wer Capra wirklich war.«
    Singer drehte sich wieder zu seinem Laptop um. »Verdammt, das weiß doch niemand vorher, wer die Monster in Wirklichkeit sind.«
    Es war Zeit, sich das letzte Videoband vorzunehmen. Moore hatte es bis zum Schluss aufgeschoben, weil er es nicht über sich gebracht hatte, sich den Bildern auszusetzen. Die anderen hatte er mit objektiver Distanz betrachten können; er hatte sich Notizen gemacht, während er sich die Schlafzimmer von Lisa Fox, Jennifer Torregrossa und Ruth Voorhees genau angesehen hatte. Wieder und wieder hatte er sich das Muster der Blutspritzer, die Knoten in der Nylonschnur, mit der die Handgelenke der Opfer gefesselt waren, den glasigen Blick des Todes in ihren Augen vorgeführt. Er konnte diese Aufnahmen mit einem Minimum an emotionaler Anteilnahme betrachten, weil er die Frauen nicht gekannt hatte und weil er in seiner Erinnerung kein Echo ihrer Stimmen vernahm. Sein Augenmerk galt nicht den Opfern, sondern der unheilvollen Präsenz, die in ihren

Weitere Kostenlose Bücher