Die Chirurgin
Oxygenation für die rote Färbung verantwortlich ist. Es ist nichts weiter als Chemie – o ja, aber diese Chemie hat die Macht, Schrecken und Entsetzen zu verbreiten. Der Anblick von Blut geht uns allen nahe.
Auch wenn ich es jeden Tag sehe, verliert es doch nie seinen ganz besonderen Reiz für mich.
Meine gierigen Blicke verschlingen die Proben. Sie kommen aus dem gesamten Großraum Boston; aus Arztpraxen und Kliniken werden sie hierher geschleust, und auch aus dem Krankenhaus gleich nebenan. Wir sind das größte diagnostische Labor der Stadt. Wo auch immer Sie in Boston den Arm entblößen, um sich Blut abzapfen zu lassen; die Chance, dass es den Weg hierher finden wird, ist groß. Hierher zu mir.
Ich logge den ersten Satz Proben ein. Jedes Röhrchen ist mit einem Etikett versehen, auf dem der Name des Patienten, der Name des Arztes und das Datum vermerkt sind. Neben dem Gestell liegt der Stapel der begleitenden Anforderungsformulare. Nach diesen Formularen greife ich jetzt und blättere sie durch, überfliege die Namen.
Mitten im Stapel halte ich plötzlich inne. Ich habe eine Anforderung für eine Patientin namens Karen Sobel vor mir. Sie ist 25, ihre Adresse lautet 7536 Clark Road, Brookline. Sie ist weiß und unverheiratet. All das weiß ich, weil es zusammen mit ihrer Sozialversicherungsnummer, dem Namen ihres Arbeitgebers und dem des Versicherungsträgers auf dem Formular erscheint.
Der Arzt hat zwei Tests angefordert: einen auf HIV und einen zweiten auf Syphilis.
In dem Feld » Diagnose « hat er vermerkt: » Vergewaltigung « .
Im Gestell finde ich das Röhrchen mit Karen Sobels Blut. Es ist von einem tiefen, trüben Dunkelrot – das Blut eines waidwunden Wilds. Ich halte es in der Hand, und während es sich durch meine Berührung erwärmt, sehe ich sie vor mir, ich spüre sie, diese Frau, die Karen heißt. Gebrochen irrt sie umher. Wartet nur darauf, von einem Räuber gerissen zu werden.
Dann schreckt mich eine Stimme auf, und ich blicke mich um.
Catherine Cordell ist soeben hereingekommen.
Sie steht so dicht neben mir, dass ich fast die Hand nach ihr ausstrecken und sie berühren könnte. Ich bin verblüfft, sie zu sehen, zumal zu dieser vorgerückten Stunde zwischen der tiefsten Dunkelheit und der Morgendämmerung. Selten verirren sich Ärzte in unsere unterirdische Welt, und sie jetzt zu sehen ist so unerwartet, wie es erregend ist – so faszinierend wie der Anblick der Persephone bei ihrem Abstieg in den Hades.
Ich frage mich, was sie hierher geführt hat. Dann sehe ich, wie sie dem Laboranten am Nebentisch mehrere Röhrchen mit einer strohgelben Flüssigkeit übergibt, und ich höre das Wort » Pleuraerguss « . Jetzt verstehe ich, weshalb sie sich zu einem Besuch bei uns herabgelassen hat. Wie viele andere Ärzte auch möchte sie gewisse kostbare Körperflüssigkeiten lieber nicht den Krankenhauskurieren anvertrauen, und deshalb ist sie selbst mit den Proben durch den Tunnel herübergekommen, der das Pilgrim Hospital mit dem Interpath-Labor verbindet.
Ich sehe ihr nach, als sie wieder geht. Sie kommt direkt an meinem Platz vorbei. Ihre Schultern hängen schlaff herab, sie schwankt, und ihre Knie zittern, als ob sie mühsam durch tiefen Schlamm watete. Die Erschöpfung und das fluoreszierende Licht lassen ihre Haut wie einen dünnen milchigweißen Überzug über den feinen Knochen ihres Gesichts erscheinen. Sie verschwindet durch die Tür, ohne zu ahnen, dass ich sie beobachtet habe.
Ich blicke auf das Röhrchen mit Karen Sobels Blut herab, das ich immer noch in der Hand halte, und es erscheint mir ganz plötzlich reizlos und ohne Leben. Sie ist eine Beute, die zu jagen sich nicht lohnt. Nicht, wenn man sie mit der vergleicht, die gerade an mir vorbeigegangen ist.
Ich habe Catherines Duft noch in der Nase.
Ich logge mich in den Computer ein, und bei » Name des Arztes « gebe ich » C. Cordell « ein. Auf dem Bildschirm erscheinen sämtliche Labortests, die sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden bestellt hat. Ich sehe, dass sie schon seit zehn Uhr abends im Krankenhaus ist. Jetzt ist es fünf Uhr dreißig, Freitagmorgen. Sie hat noch einen ganzen Tag in der Klinik vor sich.
Mein Arbeitstag neigt sich allmählich dem Ende zu.
Als ich das Gebäude verlasse, ist es sieben Uhr, und die schrägen Strahlen der Morgensonne scheinen mir direkt in die Augen. Schon jetzt ist es ein warmer Tag. Ich gehe zur Garage des Medical Center, nehme den Lift zur fünften Etage und gehe an
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