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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hundertprozentig kein Südstaatler.«
    Er konnte nicht anders, er musste einfach lachen. Winnie Bliss, mit ihren großen Augen und ihrer weichen Stimme, hatte ihn bezaubert, so wie sie sicherlich alle Studenten bezaubert hatte, die je ihr Büro betreten hatten, ob Männlein oder Weiblein. Sein Blick ging hinauf zu der Wand hinter ihr, wo eine Reihe von Gruppenfotos hingen. »Sind das die Jahrgänge der medizinischen Fakultät?«
    Sie drehte sich zur Wand um. »Ich lasse meinen Mann bei jeder Abschlussfeier ein Foto machen. Ist gar nicht so einfach, diese Studenten auf ein Bild zu kriegen. Es ist schlimmer, als einen Sack Flöhe zu hüten, sagt mein Mann. Aber ich will nun mal mein Foto haben, und ich kriege es auch. Haben Sie schon mal so viele nette junge Menschen auf einem Haufen gesehen?«
    »Welches ist Andrew Capras Abschlussklasse?«
    »Ich zeige Ihnen das Jahrbuch. Da stehen auch die Namen drin.« Sie stand auf und ging zu einem Bücherschrank mit Glastüren. Ehrfurchtsvoll zog sie einen schmalen Band aus dem Regal und strich leicht mit der Hand über den Einband, wie um den nicht vorhandenen Staub abzuwischen. »Das ist das Jahr, in dem Andrew seinen Abschluss gemacht hat. Darin sind Fotos von allen seinen Kommilitonen, und da können Sie auch nachlesen, wer wo als AiP eingestellt wurde.« Sie zögerte kurz und hielt ihm dann das Buch hin. »Das ist mein einziges Exemplar. Wenn Sie es sich also bitte hier anschauen könnten, anstatt es mitzunehmen?«
    »Ich werde mich dort in die Ecke setzen, wo ich Ihnen nicht im Weg bin. Da haben Sie mich auch immer im Auge. Was halten Sie von dem Vorschlag?«
    »Oh, ich sage doch nicht, dass ich Ihnen nicht vertraue!«
    »Na, das sollten Sie auch nicht«, erwiderte er mit einem Augenzwinkern. Sie errötete wie ein Schulmädchen.
    Er nahm das Buch mit zu der kleinen Sitzecke, wo die Kaffeekanne und die Keksschale standen. Dort ließ er sich in einen abgewetzten Sessel sinken und schlug das Jahrbuch der Medizinischen Fakultät von Emory auf. Es ging auf Mittag zu, und einige milchgesichtige Studenten in weißen Kitteln kamen hereingeschneit, um nach ihrer Post zu sehen. Seit wann konnten denn Kinder Ärzte werden? Er konnte sich nicht vorstellen, seinen in Würde gereiften Körper der Obhut dieser Jungspunde anzuvertrauen. Er sah ihre neugierigen Blicke und hörte Winnie Bliss flüstern: »Er ist ein Detective aus Boston, von der Mordkommission. « Ja, genau, dieser abgetakelte Alte, der dort in der Ecke hockte.
    Moore verkroch sich noch tiefer in seinen Sessel und wandte sich den Fotos zu. Neben jedem stand der Name des Studenten oder der Studentin, seine oder ihre Heimatstadt sowie das Krankenhaus, in dem er oder sie zur Facharztausbildung angenommen worden war. Als er zu Capras Foto kam, hielt er inne. Capra schaute unverwandt in die Kamera, ein lächelnder junger Mann mit ernsten Augen, die nichts zu verbergen schienen. Das war es, was Moore am erschreckendsten fand – dass die Raubtiere sich unerkannt inmitten ihrer Opfer bewegten.
    Neben Capras Foto war sein Facharztprogramm verzeichnet: Chirurgie, Riverland Medical Center, Savannah, Georgia.
    Er fragte sich, wer sonst noch aus Capras Jahrgang eine Facharztausbildung in Savannah aufgenommen hatte; wer sonst noch in dieser Stadt gewohnt hatte, während Capra begonnen hatte, Frauen abzuschlachten. Er blätterte das Buch durch und überflog die aufgelisteten Kliniken; dabei stellte er fest, dass drei weitere Medizinstudenten im Großraum Savannah in Facharztprogramme aufgenommen worden waren. Zwei davon waren Frauen; der dritte war asiatischer Herkunft.
    Wieder eine Sackgasse.
    Entmutigt ließ er sich zurücksinken. Das Buch blätterte sich in seinem Schoß auf, und sein Blick fiel auf das Foto des Dekans der Medizinischen Fakultät, der ihn anlächelte. Darunter war sein Grußwort zur Abschlussfeier abgedruckt: Die Welt zu heilen.
     
    Am heutigen Tage legen einhundertacht tüchtige junge Menschen einen feierlichen Eid ab, der am Ende einer langen und mühevollen Reise steht. Dieser Eid, der für alle Ärzte und Heilkundigen gilt, darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden, denn er soll ein Leben lang gelten ….
     
    Moore setzte sich kerzengerade auf und las die Botschaft des Dekans noch einmal.
     
    Am heutigen Tage legen einhundertacht tüchtige junge Menschen …
     
    Er stand auf und ging auf Winnies Schreibtisch zu. »Mrs. Bliss?«
    »Ja, Detective?«
    »Sie sagten, in Andrews erstem Semester seien

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