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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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plötzlich sah Moore sich einem Berg von einem Mann gegenüber. Das Skalpell wirkte in seiner Pranke fast lächerlich klein und zerbrechlich. Er legte das Instrument hin und zog die Handschuhe aus. Als er sich umdrehte, um sich die Hände in einem Waschbecken zu waschen, sah Moore, dass Kahn sein weißes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.
    »Also, worum geht’s denn nun?«, fragte Kahn, während er nach einem Papierhandtuch griff.
    »Ich habe ein paar Fragen zu einem Medizinstudenten im ersten Semester, den Sie vor sieben Jahren hier ausgebildet haben. Warren Hoyt.«
    Kahn wandte ihm den Rücken zu, doch Moore konnte erkennen, wie der kräftige, vor Wasser triefende Arm über dem Waschbecken plötzlich erstarrte. Dann riss Kahn das Handtuch mit einem kräftigen Ruck aus dem Spender und trocknete sich schweigend die Hände.
    »Erinnern Sie sich an ihn?«, fragte Moore.
    »Ja.«
    »Gut?«
    »Er war ein Student, den man nicht so leicht vergisst.«
    »Können Sie mir mehr dazu sagen?«
    »Eher nicht.« Kahn warf das zusammengeknüllte Handtuch in den Mülleimer.
    »Es handelt sich hier um eine kriminalpolizeiliche Ermittlung, Dr. Kahn.«
    Inzwischen wurden sie von mehreren Studenten angestarrt, deren Interesse durch das Wort »kriminalpolizeilich« geweckt worden war.
    »Gehen wir in mein Büro.«
    Moore folgte ihm in ein Nebenzimmer. Durch die gläserne Trennwand hatten sie das Labor und alle 28 Tische im Blick. Eine kleine Totenstadt.
    Kahn schloss die Tür und wandte sich zu Moore um. »Warum fragen Sie nach Warren? Was hat er getan?«
    »Gar nichts, soweit wir wissen. Ich muss nur etwas über seine Beziehung zu Andrew Capra in Erfahrung bringen.«
    »Andrew Capra?« Kahn prustete verächtlich. »Unser berühmtester Absolvent. Das ist doch etwas, womit sich jede medizinische Fakultät gerne schmückt. Einem gefährlichen Psychopathen beigebracht zu haben, wie man ein Skalpell führt.«
    »Hielten Sie Capra für geistesgestört?«
    »Ich weiß nicht, ob es eine psychiatrische Diagnose gibt, die auf Capra gepasst hätte.«
    »Und was hatten Sie für einen Eindruck von ihm?«
    »Ich habe nichts Außergewöhnliches an ihm bemerkt. Andrew erschien mir vollkommen normal.«
    Eine Beschreibung, die Moore mit jeder Wiederholung noch beängstigender vorkam.
    »Und was ist mit Warren Hoyt?«
    »Warum fragen Sie nach Warren?«
    »Ich muss wissen, ob er und Capra befreundet waren.«
    Kahn überlegte. »Ich weiß es nicht. Ich kann Ihnen nicht sagen, was außerhalb dieses Labors vor sich geht. Alles, was ich sehe, spielt sich in diesem Saal ab. Das sind Studenten, die sich nach Kräften bemühen, eine enorme Menge von Informationen in ihre überarbeiteten Gehirne hineinzustopfen. Nicht alle sind in der Lage, mit dem Stress umzugehen.«
    »Ist es das, was mit Warren passiert ist? Hat er deswegen sein Medizinstudium abgebrochen?«
    Kahn wandte sich zu der Glaswand um und blickte in das Anatomielabor. »Haben Sie sich je gefragt, wo diese Leichen eigentlich herkommen?«
    »Wie bitte?«
    »Wie die Universitätsinstitute an sie herankommen? Wie sie auf diesen Tischen landen, wo sie dann zerschnippelt werden?«
    »Ich nehme an, es gibt Leute, die ihren Körper der Wissenschaft zur Verfügung stellen.«
    »Genau. Jede dieser Leichen war einmal ein Mensch, der eine zutiefst großmütige Entscheidung fällte. Sie haben uns ihre Körper vermacht. Anstatt zuzulassen, dass ihre Körper die Zeit bis zum Jüngsten Gericht in einem Rosenholzsarg verbringen, haben sie sich entschlossen, mit ihren Überresten etwas Nützliches anzustellen. An ihnen lernt unsere nächste Generation von Ärzten. Das geht nicht ohne echte Leichen. Die Studenten müssen alle Ausprägungen der menschlichen Anatomie in ihrer dreidimensionalen Anordnung kennen lernen. Sie müssen mit einem Skalpell die Verzweigungen der Halsschlagader und die Muskeln des Gesichts erforschen. Gewiss, manches davon kann man an einem Computer lernen, aber es ist nicht dasselbe, wie wenn man tatsächlich die Haut aufschneidet, um einen feinen Nervenstrang zu isolieren. Dazu braucht es einen Menschen aus Fleisch und Blut. Man braucht Leute, die so viel Großzügigkeit und guten Willen besitzen, dass sie das Individuellste hergeben, was sie besitzen – ihren eigenen Körper. Ich bin überzeugt, dass jede dieser Leichen einmal ein ganz außergewöhnlicher Mensch war. Und so behandle ich sie auch, und ich erwarte von meinen Studenten, dass auch sie darauf Rücksicht nehmen. In diesem

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