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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hundertzehn Studenten gewesen.«
    »Wir lassen jedes Jahr genau hundertzehn zu.«
    »Aber hier in der Rede des Dekans heißt es, dass nur hundertacht ihren Abschluss gemacht haben. Was ist aus den anderen zwei geworden?«
    Winnie schüttelte betrübt den Kopf. »Ich bin immer noch nicht drüber weg, was mit dem armen Mädchen passiert ist.«
    »Mit welchem Mädchen?«
     
    »Laura Hutchinson. Sie hat in einer Klinik auf Haiti gearbeitet. Das ist ein Wahlprogramm, das bei uns angeboten wird. Die Straßen dort, na ja, die sind ziemlich katastrophal wie man so hört. Der Laster ist in den Graben gefahren und hat sie unter sich begraben.«
    »Es war also ein Unfall.«
    »Sie war hinten auf dem Laster mitgefahren. Es hat zehn Stunden gedauert, bis sie sie da rausholen konnten.«
    »Was ist mit dem anderen Studenten? Da war noch einer aus dem Jahrgang, der keinen Abschluss gemacht hat.«
    Winnie senkte den Blick, und er konnte sehen, dass sie keine große Lust hatte, über dieses Thema zu sprechen.
    »Mrs. Bliss?«
    »Das kommt halt immer mal wieder vor«, sagte sie. »Dass einer das Studium abbricht. Wir versuchen, ihnen gut zuzureden, damit sie weitermachen, aber, na ja, manche haben wirklich so ihre Probleme mit dem Stoff.«
    »Und dieser Student – wie war sein Name?«
    »Warren Hoyt.«
    »Er hat das Studium abgebrochen?«
    »Ja, so könnte man es nennen.«
    »Hatte er Probleme mit dem Studium?«
    »Nun ja …« Sie blickte sich um, als suche sie vergeblich nach Hilfe. »Vielleicht könnten Sie sich mit einem unserer Professoren unterhalten, mit Dr. Kahn. Er wird Ihnen Ihre Fragen beantworten können.«
    »Sie kennen die Antwort nicht?«
    »Es ist eher … eine Privatangelegenheit. Es ist besser, wenn Dr. Kahn es Ihnen sagt.«
    Moore sah auf seine Uhr. Er hatte noch an diesem Abend nach Savannah zurückfliegen wollen, doch es sah nicht so aus, also ob er es schaffen würde. »Wo kann ich Dr. Kahn finden?«
    »Im Anatomielabor.«
    Er konnte das Formalin schon vom Flur aus riechen. Moore blieb vor der Tür mit der Aufschrift ANATOMIE stehen und machte sich innerlich auf das gefasst, was ihn dahinter erwartete. Er glaubte vorbereitet zu sein, doch als er eintrat, war er trotz allem einen Augenblick lang überwältigt von dem Anblick. Achtundzwanzig Tische, in vier Reihen angeordnet, füllten die gesamte Länge des Saales aus. Auf den Tischen lagen Leichen in verschiedenen Stadien der Zerlegung und Präparierung. Anders als die Leichen, die Moore im Labor der Rechtsmedizin zu sehen gewohnt war, wirkten diese Körper künstlich; ihre Haut war zäh wie Leder, die freigelegten und präparierten Blutgefäße leuchtend rot und blau gefärbt. Heute war der Kopf an der Reihe, und die Studenten waren damit beschäftigt, das Netzwerk der Gesichtsmuskeln zu entwirren. Je vier Studenten waren einer Leiche zugeteilt, und der Saal war von einem vielstimmigen Gemurmel erfüllt. Passagen aus Lehrbüchern wurden laut vorgelesen, Fragen und Ratschläge ausgetauscht. Wären da nicht die grausigen Untersuchungsgegenstände auf den Tischen gewesen, es hätte sich bei diesen Studenten ebenso gut um Fabrikarbeiter handeln können, die mit irgendwelchen Maschinenteilen beschäftigt waren.
    Eine junge Frau blickte neugierig zu Moore auf, dem Fremden im Straßenanzug, der sich in ihren Saal verirrt hatte. »Suchen Sie jemanden?«, fragte sie, während ihr Skalpell zum Einschnitt bereit über der Wange einer Leiche schwebte.
    »Dr. Kahn.«
    »Er ist am anderen Ende des Saals. Sehen Sie den großen Mann dort mit dem weißen Bart?«
    »Ich sehe ihn, danke.« Er ging an der langen Reihe von Tischen vorbei, und jede Leiche zog unausweichlich seine Blicke auf sich. Die Frau mit den ausgezehrten Gliedmaßen, die wie vertrocknete Zweige auf dem Stahltisch lagen. Der Farbige, in dessen Haut eine tiefe Wunde klaffte, durch die man die kräftigen Muskeln seines Oberschenkels erkennen konnte. Am Ende der Tischreihe lauschte eine Gruppe von Studenten aufmerksam einem Mann, der wie ein Weihnachtsmann im weißen Kittel wirkte und gerade auf die feinen Fasern des Gesichtsnervs deutete.
    »Dr. Kahn?«, sagte Moore.
    Kahn blickte auf, und sofort war jede Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann verschwunden. Dieser Mann hatte dunkle, durchdringende Augen, in denen keine Spur von Humor zu erkennen war. »Ja?«
    »Ich bin Detective Moore. Mrs. Bliss vom Büro für studentische Angelegenheiten hat mich zu Ihnen geschickt.«
    Kahn richtete sich zu voller Länge auf, und

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