Die Chirurgin
wie unumstößlich. Sie wusste nichts über diese Männer, deren Namen hier verewigt waren. Es hätte sie nicht sonderlich überrascht, wenn manche von ihnen korrupte Polizisten gewesen wären, doch der Tod hatte ihre Namen und ihren Ruf unantastbar gemacht. Wie sie so vor dieser Wand stand, beneidete sie fast die Toten.
Sie ging hinaus zu ihrem Wagen. Nachdem sie eine Weile in ihrem Handschuhfach herumgewühlt hatte, förderte sie eine Karte von New England zutage. Sie breitete sie auf dem Beifahrersitz aus und sah sich ihre alternativen Ziele an: Nashua in New Hampshire oder Lithia im Westen von Massachusetts. Warren Hoyt hatte an beiden Orten einen Geldautomaten benutzt. Es lief auf ein reines Ratespiel hinaus. Sie konnte ebenso gut eine Münze werfen.
Sie ließ den Motor an. Es war halb elf; die Stadt Lithia erreichte sie erst gegen Mittag.
Wasser. Das war alles, woran Catherine denken konnte – an den kühlen, reinen Geschmack der köstlichen Flüssigkeit in ihrem Mund. Sie dachte an all die Trinkwasserbrunnen, aus denen sie je getrunken hatte, an die Wasserspender aus rostfreiem Stahl in Krankenhausfluren, aus denen eiskaltes Wasser strömte und ihre Lippen, ihr Kinn benetzte. Sie dachte an zerstoßenes Eis und daran, wie Patienten nach der OP die Hälse reckten und ihre ausgetrockneten Münder aufsperrten wie Vogelkinder im Nest, nur um ein paar kostbare Stückchen davon zu ergattern.
Und sie dachte an Nina Peyton, wie sie gefesselt in einem Schlafzimmer lag. Sie hatte gewusst, dass sie sterben musste, und hatte doch nur an ihren fürchterlichen Durst denken können.
So foltert er uns. So zwingt er uns in die Knie. Er will, dass wir um Wasser betteln, um unser Leben. Er will uns komplett beherrschen. Er will, dass wir seine Macht über uns anerkennen.
Die ganze Nacht hatte sie dagelegen und die einsame Glühbirne angestarrt. Mehrmals war sie eingenickt, nur um kurz darauf wieder hochzuschrecken, weil die Panik in ihren Eingeweiden wühlte. Aber Panik kann kein Dauerzustand sein, und als die Stunden verstrichen und es ihr trotz aller Anstrengungen nicht gelang, ihre Fesseln zu lockern, da schien ihr Körper in eine Art scheintoter Starre zu verfallen. Im albtraumhaften Zwielicht zwischen Leugnung und Realität war ihr ganzes Denken nur auf eines gerichtet – ihre Gier nach Wasser.
Schritte waren zu hören. Eine Tür öffnete sich quietschend.
Mit einem Schlag war sie hellwach. Ihr Herz hämmerte plötzlich wie ein wildes Tier, das aus ihrer Brust ausbrechen wollte. Sie sog die dumpfige Luft ein, die kühle Kellerluft, die nach Erde und feuchten Steinen roch. Ihr Atem ging schneller und schneller, während die Schritte auf der Treppe näher kamen, und dann war er da, er stand am Bett und blickte auf sie herab. Das Licht der Glühbirne ließ einen Schatten auf sein Gesicht fallen und verwandelte es in einen grinsenden Totenschädel mit leeren Augenhöhlen.
»Du würdest gerne was trinken, nicht wahr?«, sagte er. So eine ruhige Stimme. So eine vernünftige Stimme.
Sie konnte nicht sprechen, weil ihr Mund zugeklebt war, doch er konnte die Antwort von ihren fiebrigen Augen ablesen.
»Sieh mal, was ich hier habe, Catherine.« Er hielt ein Wasserglas hoch, und sie hörte das köstliche Klirren von Eiswürfeln, sah die glitzernden Wasserperlen auf der kühlen Oberfläche des Glases. »Möchtest du einen Schluck?«
Sie nickte; ihr Blick war nicht auf ihn gerichtet, sondern auf das Glas. Der Durst raubte ihr fast den Verstand, doch sie dachte bereits weiter, über diesen ersten herrlichen Schluck Wasser hinaus. Plante ihre Schritte, wog ihre Chancen ab.
Er schwenkte das Wasser im Glas, und die Eiswürfel klangen wie Glöckchen. »Nur wenn du brav bist.«
Das bin ich, versprachen ihm ihre Augen.
Das Klebeband brannte auf ihrer Haut, als er es abzog. Sie lag vollkommen passiv da und ließ sich von ihm einen Strohhalm zwischen die Lippen stecken. Sie nahm einen gierigen Schluck, doch die paar Tropfen schienen sogleich im wütenden Feuer ihres Durstes zu verdampfen. Sie trank erneut und begann sofort zu husten. Das kostbare Wasser tropfte aus ihrem Mund.
»Ich – ich kann nicht im Liegen trinken«, keuchte sie.
»Bitte lassen Sie mich aufsitzen. Bitte.«
Er stellte das Glas ab und musterte sie, seine Augen wie zwei tiefe schwarze Seen. Er sah eine Frau, die jeden Moment ohnmächtig zu werden drohte. Eine Frau, die wiederbelebt werden musste, wenn er ihre Angst und ihre Qualen voll auskosten
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