Die Chirurgin
also hereingekommen, während sie geschlafen hatte, und hatten sie sicherlich mit offenem Mund und sabbernd daliegen sehen. Musste ein äußerst erheiternder Anblick gewesen sein.
Sie stand auf, streckte sich und versuchte ihren steifen Hals gerade zu biegen, doch sie wusste, dass es vergeblich war. Nun, dann würde sie ihren Arbeitstag eben mit schiefem Kopf durchstehen müssen.
»Hallo, Rizzoli. Haben Sie Ihren Schönheitsschlaf bekommen?«
Sie drehte sich um und sah einen Detective von einem der anderen Teams, der sie über die Trennwand hinweg angrinste.
»Sieht man das nicht?«, grummelte sie. »Wo sind denn die anderen abgeblieben?«
»Ihr Team sitzt seit acht in einer Besprechung.«
»Was?«
»Ich glaube, sie ist gerade zu Ende gegangen.«
»Natürlich hat niemand sich die Mühe gemacht, mir Bescheid zu sagen.« Sie stürmte den Flur entlang. Die Wut hatte auch die letzten Spinnweben des Schlafs weggeputzt. Sie wusste sehr wohl, was da ablief. So drängte man jemanden aus dem Team – nicht durch einen Frontalangriff, sondern durch den steten Tropfen der Demütigung. Indem man sie aus Besprechungen ausschloss, sie nicht auf dem Laufenden hielt. Sie zur Ahnungslosigkeit verdonnerte.
Sie platzte in das Besprechungszimmer. Dort fand sie nur Barry Frost vor, der damit beschäftigt war, die Papiere vom Tisch einzusammeln. Er blickte auf, und eine dezente Röte breitete sich in seinem Gesicht aus, als er sie erkannte.
»Nett, dass Sie mir rechtzeitig von der Besprechung erzählt haben. Vielen Dank«, sagte sie.
»Sie haben so fertig ausgesehen. Ich dachte mir, ich könnte Ihnen später erzählen, was gelaufen ist.«
»Wann denn, nächste Woche vielleicht?«
Frost vermied es, sie anzusehen, und senkte den Blick. Sie hatten schon zu lange als Partner zusammengearbeitet, als dass der schuldbewusste Ausdruck auf seinem Gesicht ihr hätte entgehen können.
»Ich bin also kaltgestellt«, sagte sie. »War das Marquettes Entscheidung?«
Frost nickte unglücklich. »Ich habe mich dagegen ausgesprochen. Ich habe ihm gesagt, wir brauchen Sie. Aber er meinte, dass Sie wegen der Schießerei und so …«
»Was meinte er?«
Widerwillig vollendete Frost den Satz: »Dass Sie für das Team nicht mehr tragbar seien.«
Nicht mehr tragbar. Mit anderen Worten: Ihre Karriere war im Eimer.
Frost verließ den Raum. Hunger und Schlafmangel machten sie plötzlich schwindlig, und sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. Dort saß sie und starrte den leeren Tisch an. Für einen Augenblick tauchte das Bild der neunjährigen Jane aus ihrer Erinnerung auf, das Bild des verachteten Mädchens, das sich nichts sehnlicher wünschte, als von den Jungs in ihren Kreis aufgenommen zu werden. Aber die Jungs hatten sie zurückgewiesen, wie sie es immer schon getan hatten. Sie wusste, dass Pachecos Tod nicht der wahre Grund war, weshalb man sie ausgeschlossen hatte. Unbedachter Schußwaffengebrauch hatte für andere Polizisten auch nicht das Ende ihrer Karriere bedeutet. Aber wenn man eine Frau war und besser als alle anderen und wenn man auch noch die Frechheit besaß, damit nicht hinter dem Berg zu halten, dann genügte ein einziger Fehler, wie die Sache mit Pacheco, und die Sache war gelaufen.
Als sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte, fand sie das Büro verlassen. Frosts Jacke hing nicht mehr am Stuhl, und Crowes Donut-Tüte war auch verschwunden. Zeit, dass sie selbst auch die Fliege machte. Eigentlich konnte sie auch gleich ihren Schreibtisch räumen, da sie hier sowieso keine Zukunft mehr hatte.
Sie öffnete die Schublade, um ihre Handtasche herauszunehmen, und hielt inne. Aus einem wirren Haufen Papiere starrte ihr ein Autopsiefoto von Elena Ortiz entgegen. Ich bin auch eines seiner Opfer, dachte sie. Bei aller berechtigten Wut auf ihre Kollegen verlor sie dennoch nicht die Tatsache aus dem Auge, dass der Chirurg für ihren Absturz verantwortlich war. Es war der Chirurg, der sie gedemütigt hatte.
Sie schloss die Schublade mit einem Knall. Noch nicht. Noch bin ich nicht bereit aufzugeben.
Sie warf einen Blick auf Frosts Schreibtisch und den Stapel Papiere, die er vom Konferenztisch eingesammelt hatte. Sie blickte sich um, bis sie sicher war, dass niemand sie beobachtete. Nur am anderen Ende des Großraumbüros arbeiteten ein paar Detectives an ihren Computern.
Sie schnappte sich die Papiere von Frosts Schreibtisch, setzte sich damit an ihren Platz und begann zu lesen.
Es handelte sich um die Aufzeichnungen von Warren Hoyts
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