Die Chirurgin
antwortete Catherine ruhig: »Der Artikel war korrekt. Nach Savannah brauchte ich eine gewisse Zeit, um …« Sie räusperte sich. »Ich bin erst letztes Jahr im Juli in Dr. Falcos Praxis eingetreten.«
»Und Ihr erstes Jahr in Boston?«
»Da habe ich nicht gearbeitet.«
»Was haben Sie denn gemacht?«
»Gar nichts.« Mehr als diese knappe und endgültige Antwort würden sie nicht zu hören bekommen. Die erniedrigende Wahrheit über dieses erste Jahr würde sie wohlweislich für sich behalten. Die Tage – Tage, die sich zu Wochen dehnten –, in denen sie sich vor lauter Angst nicht aus ihrer Wohnung gewagt hatte. Die Nächte, in denen das geringste Geräusch sie in ein zitterndes Nervenbündel verwandelt hatte. Die quälend langsame Reise zurück in die normale Welt, in der eine schlichte Fahrstuhlfahrt oder der kurze Fußweg zu ihrem Wagen zu wahren Mutproben wurden. Sie hatte sich für ihre Verwundbarkeit geschämt, und sie schämte sich immer noch; doch ihr Stolz würde niemals zulassen, dass sie es zeigte.
Sie sah auf die Uhr. »Ich erwarte Patienten. Ich habe dem, was ich Ihnen gesagt habe, wirklich nichts hinzuzufügen.«
»Lassen Sie mich die Fakten noch einmal durchgehen.«
Rizzoli schlug ein kleines Notizbuch mit Spiralbindung auf. »Vor etwas mehr als zwei Jahren, in der Nacht des fünfzehnten Juni, wurden Sie in Ihrer Wohnung von Dr. Andrew Capra überfallen. Von einem Mann, den Sie kannten. Er war Arzt im Praktikum und arbeitete mit Ihnen im Krankenhaus.« Sie sah zu Catherine auf.
»Sie kennen die Antworten bereits.«
»Er setzte Sie unter Drogen und entkleidete Sie. Fesselte Sie an Ihr Bett; terrorisierte Sie.«
»Ich weiß nicht, wozu das …«
»Vergewaltigte Sie.« Obwohl die Worte leise gesprochen wurden, trafen sie Catherine wie ein brutaler Schlag ins Gesicht.
Sie schwieg.
»Und er hatte noch mehr mit Ihnen vor«, fuhr Rizzoli fort.
Lieber Gott, lass sie aufhören.
»Er wollte Sie auf die schlimmste denkbare Weise verstümmeln. So wie er vier weitere Frauen in Georgia verstümmelt hatte. Er schnitt sie auf. Zerstörte genau das, was sie zu Frauen machte.«
»Das reicht«, sagte Moore.
Aber Rizzoli ließ sich nicht beirren. »Es hätte auch Ihnen zustoßen können, Dr. Cordell.«
Catherine schüttelte den Kopf. »Warum tun Sie das?«
»Dr. Cordell, ich habe keinen größeren Wunsch, als diesen Mann zu fassen, und ich nehme doch an, dass Sie uns helfen wollen. Sie wollen doch sicherlich verhindern, dass anderen Frauen das Gleiche passiert.«
»Das hat alles nichts mit mir zu tun! Andrew Capra ist tot. Er ist schon seit über zwei Jahren tot.«
»Ja. Ich habe den Autopsiebericht gelesen.«
»Na also. Und ich kann garantieren, dass er tot ist«, gab Catherine zurück. »Ich bin nämlich diejenige, die das Schwein abgeknallt hat.«
4
Moore und Rizzoli saßen im Wagen und schwitzten. Aus den Lüftungsschlitzen strömte warme Luft. Seit zehn Minuten standen sie jetzt im Stau, und im Auto wurde es nicht kühler.
»Die Steuerzahler bekommen das, wofür sie bezahlen«, sagte Rizzoli. »Und dieses Auto ist ein einziger Schrotthaufen.«
Der Stau löste sich langsam auf.
Moore stellte die Klimaanlage ab und drehte sein Fenster herunter. Der Geruch von heißem Asphalt und Autoabgasen wehte herein. Er war jetzt schon schweißgebadet. Er wusste nicht, wie Rizzoli es in ihrem Blazer aushalten konnte; er selbst hatte sich seiner Jacke entledigt, kaum dass sie aus der Tür des Pilgrim Medical Center getreten waren und die schwüle Luft sie wie eine schwere Decke eingehüllt hatte. Sie musste die Hitze auch spüren, das erkannte er an den Schweißtropfen, die auf ihrer Oberlippe glänzten; einer Lippe, die vermutlich nie Bekanntschaft mit einem Lippenstift gemacht hatte. Rizzoli sah nicht schlecht aus, doch während andere Frauen ihre Haut mit Make-up glätteten oder sich Ohrringe ansteckten, schien Rizzoli entschlossen, ihrer eigenen Attraktivität entgegenzuwirken. Sie trug strenge, dunkle Kostüme, die ihrer zierlichen Figur nicht schmeichelten, und ihre Frisur war ein Mopp von schwarzen Locken, auf den sie augenscheinlich keinen Gedanken verschwendete. Sie war so, wie sie war, und das konnte man entweder akzeptieren oder sich ganz einfach zum Teufel scheren. Er verstand, weshalb sie sich diese Ihr-könnt-mich-mal-Einstellung zugelegt hatte – sie brauchte das wohl, um als Polizistin zu überleben. Rizzoli war vor allem eine Überlebenskünstlerin.
Genau wie Catherine Cordell. Aber
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