Die Chirurgin
Aber stellen Sie bitte keine Anrufe durch.«
Ohne sich um Helens fragenden Blick zu kümmern, steuerte Catherine schnurstracks ihr Büro an. Moore und Rizzoli folgten ihr auf dem Fuß. Sofort griff sie nach ihrem weißen Laborkittel, doch er hing nicht am Türhaken, wo sie ihn immer aufzuhängen pflegte. Es war nur ein kleines Ärgernis, doch sie war bereits dermaßen aufgewühlt, dass ihr diese Kleinigkeit fast schon zu viel war. Sie sah sich suchend in dem Zimmer um, als hinge ihr Leben von diesem Kittel ab. Schließlich erblickte sie ihn; er hing über dem Aktenschrank. Sie verspürte eine irrationale Erleichterung, als sie danach griff, und zog sich hinter ihren Schreibtisch zurück. Dort, verbarrikadiert hinter der glänzenden Rosenholzplatte, fühlte sie sich sicherer. Hier hatte sie das Gefühl, Herrin der Lage zu sein.
In dem Büro herrschte eine strenge Ordnung, wie auch in allen anderen Bereichen ihres Lebens. Für Nachlässigkeit hatte sie nur wenig Verständnis, und ihre Akten waren fein säuberlich in zwei Stapeln auf ihrem Schreibtisch aufgeschichtet. Ihre Bücher standen alphabetisch nach Autoren geordnet im Regal. Der Computer summte leise vor sich hin, während der Bildschirmschoner geometrische Muster auf dem Monitor tanzen ließ. Catherine zog den Laborkittel über das blutbefleckte Oberteil ihres OP-Anzugs. Die zusätzliche Uniformschicht schien wie ein weiterer Schutzschild, eine weitere Barriere, die sie gegen die wirren und gefährlichen Launen des Lebens abschirmte.
Von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch aus beobachtete sie, wie Moore und Rizzoli sich im Büro umsahen und zweifellos die Frau, die dort arbeitete, zu taxieren suchten. War es ein automatischer Reflex von Polizisten, dieser prüfende Blick, dieses Abschätzen der Persönlichkeit des Gegenübers? Catherine fühlte sich plötzlich schutzlos und verwundbar.
»Ich verstehe, dass es für Sie sehr unangenehm sein muss, an dieses Thema erinnert zu werden«, sagte Moore, während er Platz nahm.
»Sie ahnen ja nicht, wie unangenehm. Das ist zwei Jahre her. Wieso interessieren Sie sich jetzt dafür?«
»Im Zusammenhang mit zwei ungelösten Mordfällen hier in Boston.«
Catherine runzelte die Stirn. »Aber ich wurde in Savannah überfallen.«
»Ja, das wissen wir. Es gibt eine landesweite Verbrechens-Datenbank namens VICAP. Als wir in VICAP nach Verbrechen suchten, die Ähnlichkeiten mit unseren Mordfällen hier aufweisen, stießen wir auf den Namen Andrew Capra.«
Catherine schwieg einen Augenblick, während sie diese Information verarbeitete und dann all ihren Mut zusammennahm, um die nächste logische Frage zu stellen. Es gelang ihr, sie mit ruhiger Stimme auszusprechen: »Was sind die Ähnlichkeiten, von denen Sie sprachen?«
»Die Art, wie die Frauen betäubt und gefesselt wurden. Das Instrument, das zum Schneiden benutzt wurde. Die …«
Moore hielt inne, es fiel ihm nicht leicht, eine taktvolle Formulierung zu finden. »Die besondere Art der Verstümmelung«, vollendete er leise.
Catherine musste sich mit beiden Händen an der Schreibtischplatte festhalten, um gegen die plötzliche Welle von Übelkeit anzukämpfen, die sie überkam. Ihr Blick fiel auf die Akten, die so sorgfältig gestapelt vor ihr lagen. Am Ärmel ihres Laborkittels entdeckte sie einen blauen Tintenfleck. Ganz gleich, wie sehr du dich bemühst, in deinem Leben für Ordnung zu sorgen; ganz gleich, wie sehr du auf der Hut bist vor Fehlern und Unvollkommenheiten – immer lauert im Verborgenen irgendein Fleck, ein Makel, und wartet nur darauf, dir eine böse Überraschung zu bereiten.
»Erzählen Sie mir von ihnen«, sagte sie. »Von den zwei Frauen.«
»Es ist uns nicht gestattet, allzu viele Details preiszugeben.«
»Was dürfen Sie mir denn verraten?«
»Nicht mehr als das, was in der Sonntagsausgabe des Globe stand.«
Sie brauchte einige Sekunden, um das soeben Gehörte zu verarbeiten. »Diese Bostoner Morde – wurden also vor kurzem verübt?«
»Der letzte am frühen Freitagmorgen.«
»Also hat das Ganze nichts mit Andrew Capra zu tun! Und auch nicht mit mir.«
»Es gibt auffallende Übereinstimmungen.«
»Dann ist das reiner Zufall. Es kann gar nicht anders sein. Ich dachte, Sie reden von alten Fällen. Von Verbrechen, die Capra vor Jahren begangen hat. Nicht erst letzte Woche.«
Abrupt schob sie ihren Stuhl zurück. »Ich sehe nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.«
»Dr. Cordell, der Mörder weiß über Einzelheiten Bescheid, die wir nie
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