Die Chirurgin
Dr. Cordell hatte eine andere Überlebensstrategie entwickelt: Sie zog sich in sich selbst zurück, ging auf Distanz. Während des Gesprächs hatte er das Gefühl gehabt, sie durch eine Milchglasscheibe zu betrachten, so abweisend war sie ihm erschienen.
Es war diese distanzierte Art, die Rizzoli fuchste. »Irgendetwas stimmt nicht mit der Frau«, sagte sie. »Es scheint, dass da im emotionalen Bereich etwas Entscheidendes fehlt.«
»Sie ist Unfallchirurgin. Sie ist darauf trainiert, einen kühlen Kopf zu bewahren.«
»Zwischen kühl und eiskalt ist aber noch ein Unterschied. Vor zwei Jahren ist sie gefesselt, vergewaltigt und um ein Haar ausgeweidet worden. Und jetzt geht sie so verdammt ruhig damit um. Das gibt mir zu denken.«
Moore bremste vor einer roten Ampel. Schweigend saß er da und starrte auf die verstopfte Kreuzung hinaus. Der Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Bei Hitze funktionierte er nicht sonderlich gut; er fühlte sich träge und benommen. Er sehnte sich nach dem Ende des Sommers, nach der Reinheit des ersten Schnees …
»He«, sagte Rizzoli. »Hören Sie mir überhaupt zu?«
»Sie hat sich sehr gut im Griff«, räumte er ein. Aber eiskalt – nein, dachte er und erinnerte sich daran, wie Catherine Cordells Hand gezittert hatte, als sie ihm die Fotos der beiden Frauen zurückgegeben hatte.
Zurück an seinem Schreibtisch trank er eine lauwarme Cola und las noch einmal den Artikel, der ein paar Wochen zuvor im Boston Globe erschienen war: »Frauen, die das Messer schwingen«. Darin ging es um drei Bostoner Chirurginnen – ihre Triumphe und ihre Probleme, die besonderen Schwierigkeiten, mit denen sie in ihrem Spezialgebiet zu kämpfen hatten. Von den drei Fotos war das von Cordell der eigentliche Blickfang. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie attraktiv war; es war ihr Blick – so stolz und direkt, dass es schien, als fordere sie die Kamera heraus. Wie der Text bestätigte auch das Foto seinen Eindruck, dass diese Frau ihr Leben fest im Griff hatte.
Er legte den Artikel beiseite und dachte darüber nach, wie sehr der erste Eindruck doch täuschen konnte. Wie leicht der Schmerz sich hinter der Maske eines Lächelns, eines stolz erhobenen Kopfes, verbergen kann.
Jetzt schlug er einen anderen Aktenordner auf. Er holte tief Luft und las noch einmal den Bericht der Polizei von Savannah über Dr. Andrew Capra.
Capra hatte seinen ersten aktenkundigen Mord begangen, als er noch an der Emory University in Atlanta Medizin studiert hatte. Das Opfer war Dora Ciccone, eine zweiundzwanzigjährige Studentin derselben Universität, deren Leiche in ihrer Wohnung ans Bett gefesselt aufgefunden wurde. Spuren des Schlafmittels Rohypnol, das oft von Vergewaltigern benutzt wurde, wurden bei der Obduktion in ihrem Körper gefunden. Ihre Wohnung wies keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens auf.
Das Opfer hatte den Mörder zu sich eingeladen.
Nachdem ihr das Medikament verabreicht worden war, wurde Dora Ciccone mit einer Nylonschnur an ihr Bett gefesselt und mit Hilfe von Klebeband am Schreien gehindert. Zuerst vergewaltigte der Killer sie. Dann schnitt er sie auf.
Sie war während der Operation noch am Leben.
Nachdem er die Exzision beendet und sein Souvenir an sich genommen hatte, versetzte er ihr den Gnadenstoß: einen einzelnen, tiefen Schnitt durch die Kehle, von links nach rechts. Zwar kam die Polizei über das Sperma des Mörders an seine DNS, doch es gab keine heiße Spur. Die Ermittlungen wurden durch die Tatsache erschwert, dass Dora als Partygirl bekannt und gerne durch die Kneipen und Bars gezogen war, wobei sie sich des Öfteren von Männern, die sie gerade erst kennen gelernt hatte, nach Hause begleiten ließ.
An dem Abend, der ihr letzter sein sollte, war der Mann, den sie abschleppte, ein Medizinstudent namens Andrew Capra. Aber die Polizei wurde erst auf Capras Namen aufmerksam, nachdem drei Frauen in der Stadt Savannah abgeschlachtet worden waren, dreihundert Kilometer von Atlanta entfernt.
Und schließlich, in einer schwülen Juninacht, fand die Mordserie ein Ende.
Die einunddreißigjährige Catherine Cordell, leitende chirurgische Assistenzärztin am Riverland Hospital in Savannah, wurde durch ein Klopfen an ihrer Wohnungstür aufgeschreckt. Als sie aufmachte, erblickte sie Andrew Capra, einen ihrer Praktikanten in der Chirurgie, auf ihrer Veranda. An diesem Tag hatte sie ihn im Krankenhaus wegen eines Fehlers, den er begangen hatte, zurechtgewiesen, und nun wollte er
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