Die Chirurgin
sie etwas fülliger war. Und als sie sich zu ihr umdrehte und das Licht der Deckenlampe direkt auf ihre Stirn fiel, da hatte Rizzoli das unheimliche Gefühl, dass sie in dasselbe Gesicht blickte, das sie vom Seziertisch angestarrt hatte.
»Wenn ich diese Blagen am Hals habe, brauche ich für jede Kleinigkeit eine halbe Ewigkeit«, sagte Anna. Sie pflückte den Kleinen von ihrem Bein ab und setzte ihn sich mit einer routinierten Bewegung auf die Hüfte. »Also, dann wollen wir mal sehen. Sie kommen wegen des Schmucks. Ich hole mal eben die Schatulle.« Sie verließ die Küche, und Rizzoli, allein gelassen mit drei Babys, verspürte einen Anflug von Panik. Eine klebrige Hand landete auf ihrem Fußknöchel; sie sah nach unten und erblickte das kleine Krabbeltier, das gerade ihren Hosensaum anknabberte. Sie schüttelte es ab und brachte sich rasch in eine sichere Entfernung von diesem zahnlosen Mäulchen.
»Hier ist es«, sagte Anna, als sie mit dem Kästchen zurückkam und es auf den Küchentisch stellte. »Wir wollten es nicht in der Wohnung lassen, wo all die fremden Leute ein und aus gehen, die Putzfrauen und so weiter. Also haben meine Brüder sich gedacht, dass ich das Kästchen erst mal behalten sollte, bis die Familie entscheidet, was mit dem Schmuck passieren soll.« Sie hob den Deckel an, und eine kleine Melodie erklang. Somewhere My Love. Die Musik schien Anna für einen Moment die Sprache zu verschlagen. Sie saß ganz still da, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Mrs. Garcia?«
Anna schluckte. »Tut mir Leid. Mein Mann muss es wohl aufgezogen haben. Ich hatte nicht damit gerechnet, das zu hören.«
Die Melodie wurde langsamer, und nach ein paar letzten lieblichen Tönen brach sie schließlich ab. In der plötzlichen Stille blickte Anna auf den Schmuck herab, den Kopf in tiefer Trauer gesenkt. Widerstrebend, mit resignierter Miene, öffnete sie eines der mit Samt ausgeschlagenen Fächer und nahm die Halskette heraus.
Rizzoli spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, als sie die Kette aus Annas Hand nahm. Alles war so, wie sie es von Annas Hals im Leichenschauhaus in Erinnerung hatte: ein kleines Schloss mit Schlüssel an einer dünnen Goldkette. Sie drehte das Schloss um und sah die Prägung auf der Rückseite: achtzehn Karat.
»Woher hatte Ihre Schwester diese Halskette?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wissen Sie, wie lange sie sie schon hatte?«
»Das muss was Neues sein. Die Kette habe ich an dem Tag zum ersten Mal gesehen.«
»An welchem Tag?«
Anna schluckte erneut und sagte leise: »An dem Tag, als ich sie zusammen mit dem anderen Schmuck im Leichenschauhaus abgeholt habe.«
»Sie trug außerdem noch Ohrstecker und einen Ring. Diese Sachen hatten Sie vorher schon einmal gesehen?«
»Ja. Die hatte sie schon lange.«
»Aber nicht die Halskette.«
»Warum fragen Sie immer wieder danach? Was hat das denn damit zu tun …« Anna hielt inne; in ihren Augen begann die entsetzliche Erkenntnis zu dämmern. »Um Gottes willen – Sie glauben, dass er ihr die Kette umgelegt hat?«
Das Baby in dem Hochstuhl spürte offenbar, dass etwas nicht stimmte, und begann zu heulen. Anna setzte ihren eigenen Sohn auf dem Fußboden ab und eilte zu dem Hochstuhl, um das weinende Kind in den Arm zu nehmen. Sie drückte es fest an sich und wandte sich mit ihm von der Kette ab, als wolle sie das Kleine vor dem Anblick dieses unheilvollen Talismans bewahren. »Bitte nehmen Sie sie mit«, flüsterte sie. »Ich will sie nicht in meinem Haus haben.«
Rizzoli ließ die Kette in einen verschließbaren Plastikbeutel gleiten. »Ich stelle Ihnen eine Quittung aus.«
»Nein, schaffen Sie sie nur weg von hier! Von mir aus können Sie sie behalten.«
Rizzoli schrieb die Quittung dennoch und legte sie auf den Küchentisch, neben den Teller mit dem pürierten Spinat.
»Ich muss Ihnen noch eine Frage stellen«, sagte sie mit sanfter Stimme.
Anna ging weiter in der Küche auf und ab und wippte das Baby nervös in ihren Armen.
»Bitte sehen Sie sich die Schatulle Ihrer Schwester noch einmal genau an und sagen Sie mir, ob irgendetwas fehlt.«
»Das haben Sie mich vorige Woche schon gefragt. Es fehlt nichts.«
»Es ist nicht leicht, festzustellen, ob irgendetwas nicht vorhanden ist; wir achten gewöhnlich mehr darauf, ob etwas nicht am richtigen Platz ist. Ich muss leider darauf bestehen, dass Sie das Kästchen noch einmal durchsehen. Bitte.«
Anna schluckte krampfhaft. Widerstrebend setzte sie sich mit dem
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