Die Chirurgin
hatte:
22-jährige Hispanoamerikanerin, vergewaltigt vor zwei Stunden. Keine Allergien, keine Medikationen. BD 105/70, P 100, T37,2.
Der Rest der Seite war unleserlich.
»Sie werden es für mich übersetzen müssen«, sagte er.
Sie sah ihn über die Schulter an, und plötzlich waren ihre Gesichter einander so nahe, dass ihm der Atem stockte.
»Können Sie das nicht lesen?«, fragte sie.
»Ich kann Reifenspuren und Blutspritzer lesen. Aber das da nicht.«
»Das ist Ken Kimballs Handschrift. Ich erkenne seine Unterschrift.«
»Ich kann noch nicht mal sagen, was für eine Sprache das sein soll.«
»Für einen anderen Arzt ist das vollkommen leserlich. Man muss lediglich den Code kennen.«
»Bringt man Ihnen das im Medizinstudium bei?«
»Genauso wie den geheimen Händedruck und die Instruktionen für den Decoder-Ring.«
Es war ein merkwürdiges Gefühl, bei einem so ernsten Anlass Witzchen zu reißen; noch merkwürdiger war es, solche Scherzworte aus dem Mund von Dr. Cordell zu hören. Es war das erste Mal, dass er einen Blick auf die Frau unter der abweisenden Schale erhaschte. Auf die Frau, die sie gewesen war, bevor Andrew Capra sein Unheil angerichtet hatte.
»Der erste Absatz ist die körperliche Untersuchung«, erklärte sie. »Er benutzt die üblichen Abkürzungen. KAONH steht für Kopf, Augen, Ohren, Nase und Hals. Die Lungen waren frei, das Herz wies keine Reibegeräusche und keinen Galopprhythmus auf.«
»Und das heißt?«
»Alles normal.«
»Ein Arzt kann also nicht einfach schreiben: ›Das Herz ist normal‹?«
»Warum sprechen Polizisten von ›Fahrzeugen‹ anstatt schlicht und einfach von ›Autos‹?«
Er nickte. »Gut gegeben.«
»Das Abdomen war flach und weich, ohne Organvergrößerungen. Mit anderen Worten …«
»Normal.«
»Langsam begreifen Sie’s. Als Nächstes beschreibt er die … Beckenuntersuchung. Wo nicht alles normal ist.« Sie hielt inne. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme leiser, ohne jeden Anflug von Humor. Sie holte noch einmal Luft, als müsse sie ihren Mut zusammennehmen, bevor sie fortfahren konnte. »Im Introitus war Blut. Kratzer und Blutergüsse an beiden Oberschenkeln. Ein Vaginalriss in der Vier-Uhr-Position; ein Hinweis darauf, dass es sich nicht um einvernehmlichen Verkehr handelte. Dr. Kimball schreibt, dass er die Untersuchung an diesem Punkt abgebrochen hat.«
Moore konzentrierte sich auf den letzten Absatz. Diese Sätze konnte er entziffern; sie enthielten keine medizinischen Hieroglyphen.
Patientin wurde unruhig. Verweigerte Abstrich. Wollte sich auf keine weiteren Maßnahmen einlassen. Nach Blutentnahme für Baseline-Tests auf HIV und Geschlechtskrankheiten zog sie sich an und verließ das Krankenhaus, bevor die Behörden informiert werden konnten.
»Die Vergewaltigung wurde also nie gemeldet«, sagte er. »Es wurde kein Abstrich gemacht. Keine DNS sichergestellt.«
Catherine war still. Sie stand mit gesenktem Kopf da und hielt den Ringordner umklammert.
»Dr. Cordell?«, sagte er und berührte ihre Schulter. Sie zuckte zusammen, als ob seine Hand sie verbrannt hätte, und er zog sie rasch zurück. Als sie aufblickte, sah er den Zorn in ihren Augen aufflackern. Sie strahlte eine grimmige Entschlossenheit aus, und für einen Augenblick war von Schwäche oder Verletzlichkeit nichts mehr zu spüren.
»Vergewaltigt im Mai, abgeschlachtet im Juli«, sagte sie. »Eine schöne Welt ist das für Frauen, nicht wahr?«
»Wir haben mit allen Mitgliedern ihrer Familie gesprochen. Niemand hat irgendetwas von einer Vergewaltigung gesagt.«
»Dann hat sie es ihnen nicht erzählt.«
Er fragte sich, wie viele Frauen wohl nie ihr Schweigen brachen. Wie viele von ihnen haben Geheimnisse, die so schmerzlich sind, dass sie sich nicht einmal den Menschen anvertrauen können, die sie lieben? Er sah Catherine an und musste daran denken, dass auch sie Trost bei völlig Fremden gesucht hatte.
Sie nahm das Protokoll aus dem Ordner und gab es ihm zum Kopieren. Als er das Blatt nahm, fiel sein Blick auf den Namen des Arztes, und ein anderer Gedanke drängte sich ihm auf.
»Was können Sie mir über Dr. Kimball sagen?«, fragte er.
»Den Arzt, der Elena Ortiz untersucht hat?«
»Er ist ein hervorragender Arzt.«
»Macht er normalerweise die Nachtschicht?«
»Ja.«
»Wissen Sie, ob er Donnerstagnacht letzte Woche Bereitschaft hatte?«
Es dauerte eine Weile, bis ihr die Bedeutung dieser Frage aufging. Er sah, wie erschüttert sie war, als ihr die
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