Die Chirurgin
sagte Rizzoli. »Kein Mumm in den Knochen. Braves Hausväterchen.«
»Was ist so verkehrt daran, ein häuslicher Mensch zu sein? Ich wünschte, ich wäre darin besser gewesen.«
Sie sah von dem Karton mit mongolischem Rindfleisch auf und merkte, dass er nicht sie anschaute, sondern die Halskette. In seiner Stimme hatte ein trauriger Unterton gelegen, und sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie kam zu dem Schluss, dass sie am besten gar nichts sagen sollte.
Sie war erleichtert, als er das Gespräch wieder auf die Ermittlungen brachte. In der Welt, in der sie sich bewegten, war Mord immer ein unbedenkliches Gesprächsthema.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte er. »Diese Geschichte mit dem Schmuck ergibt in meinen Augen keinen Sinn.«
»Er sammelt Souvenirs. Das ist nicht so ungewöhnlich.«
»Aber was hat es für einen Zweck, ein Souvenir an sich zu nehmen, wenn man es anschließend wieder hergibt?«
»Manche Täter nehmen dem Opfer den Schmuck ab und schenken ihn ihren Frauen oder Freundinnen. Es verschafft ihnen einen heimlichen Kick, wenn sie das Ding am Hals ihrer Freundin sehen und als Einzige wissen, woher es wirklich stammt.«
»Aber unser Bursche macht doch etwas anderes. Er lässt das Souvenir am nächsten Tatort zurück. Er kann es nicht immer wieder anschauen. Kann sich nicht immer wieder diesen Kick verschaffen und sich an seine Tat erinnern lassen. Ich kann da keinen emotionalen Gewinn erkennen.«
»Ein Besitzsymbol? Wie die Duftmarken, mit denen ein Hund sein Revier kennzeichnet? Bloß dass er ein Schmuckstück benutzt, um sein nächstes Opfer zu markieren.«
»Nein. Das ist es nicht.« Moore griff nach der Plastiktüte und wog sie in der Hand, als wolle er ihre wahre Bedeutung erraten.
»Die Hauptsache ist, dass wir hinter das Muster gekommen sind«, sagte sie. »Wir wissen genau, was wir am nächsten Tatort zu erwarten haben.«
Er blickte zu ihr auf. »Sie haben die Frage gerade beantwortet.«
»Was?«
»Er markiert nicht das Opfer. Sondern den Tatort.«
Rizzoli war einen Moment still. Dann ging ihr plötzlich der Unterschied auf. »Mein Gott. Indem er den Tatort markiert …«
»Das ist kein Souvenir. Und es ist auch keine Markierung eines Besitzanspruchs.« Er legte die Halskette hin, das verschlungene Geschmeide aus Gold, das die Haut zweier toter Frauen gestreift hatte.
Ein Schauder durchfuhr Rizzoli. »Es ist eine Visitenkarte«, sagte sie leise.
Moore nickte. »Der Chirurg spricht zu uns.«
Ein Ort starker Winde und gefährlicher Strömungen.
So beschreibt Edith Hamilton in ihrem Buch Mythologie den griechischen Hafen Aulis. Hier befinden sich die Ruinen des antiken Tempels der Artemis, der Göttin der Jagd. In Aulis war es, wo sich die tausend schwarzen Schiffe der Griechen für den Überfall auf Troja versammelten. Doch der Nordwind wehte, und die Schiffe konnten nicht ablegen. Tag um Tag verging, ohne dass der Wind nachließ, und das griechische Heer unter dem Kommando des Agamemnon wurde zornig und unruhig. Ein Seher enthüllte den Grund für die ungünstigen Winde: Die Göttin Artemis war erzürnt, weil Agamemnon eines ihrer Lieblingstiere getötet hatte, einen wilden Hasen. Sie würde nicht zulassen, dass die Griechen segelten, es sei denn, Agamemnon brächte ihr ein grausames Opfer dar: seine Tochter Iphigenie.
Und so ließ er nach Iphigenie schicken, unter dem Vorwand, dass er sie in einer prächtigen Hochzeitsfeier dem Achilles zur Frau geben wolle. Sie wusste nicht, dass sie in Wirklichkeit kam, um hier den Tod zu finden.
Der wütende Nordwind wehte nicht an dem Tag, als wir beide nahe Aulis am Strand entlangspazierten. Es war windstill, das Wasser war grünes Glas, und der Sand unter unseren Füßen war heiß wie weiße Asche. Ach, wie wir die griechischen Knaben beneideten, die barfuß über den von der Sonne erhitzten Strand liefen! Der Sand versengte unsere bleiche Touristenhaut, und dennoch genossen wir geradezu die Qualen, denn wir wollten so sein wie diese Knaben, mit Fußsohlen wie gegerbtes Leder. Nur durch Schmerzen und ständige Beanspruchung bilden sich Schwielen.
Am Abend, als es ein wenig abgekühlt hatte, gingen wir zum Tempel der Artemis.
Wir wandelten zwischen den länger werdenden Schatten umher und kamen zu dem Altar, auf dem Iphigenie geopfert wurde. Das Mädchen betete und schrie »Vater, verschone mich!«, doch niemand, hörte auf sie, und die Krieger trugen sie zum Altar. Sie wurde auf dem Scheiterhaufen
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