Die Chirurgin
ausgestreckt, ihr weißer Hals für die Klinge freigelegt. Der antike Dramatiker Euripides beschreibt, wie die Soldaten des Atreus den Blick zum Boden senkten, wie auch das ganze Heer, weil sie nicht zusehen wollten, wie ihr jungfräuliches Blut vergossen wurde. Weil sie nicht Zeugen der grausigen Tat werden wollten.
Aber ich hätte hingesehen! Und du auch. Mehr noch, wir hätten es kaum erwarten können.
Ich malte mir aus, wie die Soldaten sich schweigend in der Finsternis versammelten. Ich stellte mir vor, wie die Trommeln zu schlagen begannen; statt der pulsierenden Rhythmen einer Hochzeitsfeier der düstere Klang eines Todesmarsches. Ich sah die Prozession, die sich zum Hain hin wand. Das Mädchen, weiß wie ein Schwan, flankiert von Soldaten und Priestern. Die Trommeln verstummen.
Sie tragen die Schreiende zum Altar.
In meiner Vision ist es Agamemnon selbst, der das Messer führt, denn weshalb würde man es ein Opfer nennen, wäre man nicht selbst derjenige, der das Blut fließen lässt? Ich sehe, wie er an den Altar herantritt, auf dem seine Tochter liegt. Ihr zartes Fleisch ist den Blicken aller ausgesetzt. Sie fleht um ihr Leben, doch sie fleht vergebens.
Der Priester packt ihre Haare und zieht ihr den Kopf in den Nacken, um die Kehle freizulegen. Unter der weißen Haut pulst die Arterie; sie bezeichnet den Punkt, an dem die Klinge ansetzen muss. Agamemnon steht neben seiner Tochter, er blickt auf das geliebte Gesicht herab. In ihren Adern fließt sein Blut. In ihren Augen sieht er seine eigenen. Indem er ihre Kehle durchschneidet, schneidet er in sein eigenes Fleisch.
Er hebt das Messer. Die Soldaten stehen schweigend umher, Statuen zwischen den Bäumen des heiligen Hains. Der Puls im Hals des Mädchens beginnt zu flattern.
Artemis verlangt das Opfer, und Agamemnon muss es darbringen.
Er setzt die Klinge an den Hals des Mädchens und vollführt einen tiefen Schnitt.
Eine rote Fontäne spritzt hervor und benetzt sein Gesicht wie ein warmer Regen. Iphigenie lebt noch, in ihrer Todesangst verdreht sie die Augen, während ihr Herz das Blut aus der Halswunde pumpt. Der menschliche Körper enthält fünf Liter Blut, und es dauert eine Weile, bis eine solche Menge durch eine einzige durchtrennte Arterie abfließen kann. Solange das Herz noch schlägt, schießt das Blut heraus. Mindestens einige Sekunden lang, vielleicht aber auch eine Minute oder länger, arbeitet auch das Gehirn noch. Die Gliedmaßen zucken.
Während ihr Herz seine letzten Schläge vollführt, blickt Iphigenie zum dunkler werdenden Himmel auf und spürt die warmen Spritzer ihres eigenen Blutes im Gesicht.
Die Alten berichten, dass der Nordwind sich beinahe augenblicklich gelegt habe. Artemis war zufrieden. Endlich legten die griechischen Schiffe ab, die Armeen zogen in den Kampf, und Troja fiel. Im Kontext dieses größeren Blutvergießens fiel die Tötung eines einzigen unschuldigen Mädchens nicht ins Gewicht.
Aber wenn ich an den Trojanischen Krieg denke, dann kommt mir nicht das hölzerne Pferd in den Sinn oder das Klirren der Schwerter oder die tausend schwarzen Schiffe mit gehissten Segeln. Nein, es ist das Bild eines Mädchenkörpers, ausgeblutet und weiß, und ihres Vaters, der neben ihr steht mit der blutigen Klinge in der Hand.
Der edle Agamemnon, mit Tränen in den Augen.
7
»Das Ding pulsiert«, sagte die Schwester.
Catherines Mund war vor Entsetzen wie ausgetrocknet, als sie den Mann auf dem OP-Tisch anstarrte. Eine dreißig Zentimeter lange Eisenstange ragte senkrecht aus seinem Brustkorb. Ein Medizinstudent war bei dem Anblick bereits in Ohnmacht gefallen, und die drei OP-Schwestern standen mit offenem Mund um den Verletzten herum. Die Stange steckte tief in seiner Brust und hob und senkte sich im Rhythmus seines Herzschlags.
»Wie ist der Blutdruck?«, fragte Catherine.
Beim Klang ihrer Stimme schien alles schlagartig von Lethargie auf Handeln umzuschalten. Die Blutdruckmanschette wurde aufgepumpt, dann strömte die Luft zischend wieder aus.
»Siebzig zu vierzig. Puls auf hundertfünfzig gestiegen!«
»Beide Infusionen laufen im Schuss!«
»Thorakotomie-Set steht bereit …«
»Hol doch mal irgendwer Dr. Falco her, aber schnell. Ich werde Hilfe brauchen.« Catherine schlüpfte in einen sterilen Kittel und zog Handschuhe an. Ihre Handflächen waren schon schweißnass. Die Tatsache, dass die Eisenstange pulsierte, verriet ihr, dass die Spitze nahe dem Herzmuskel saß oder gar – im schlimmsten Fall – ins Herz
Weitere Kostenlose Bücher