Die Chirurgin
Interesse an Frauen empfunden; die Trauer hatte alle Leidenschaft erstickt. Er wusste nicht, wie er mit diesem neu entfachten Funken der Lust umgehen sollte. Er wusste nur, dass seine Gefühle unter den gegebenen Umständen unangemessen waren. Und dass er sich damit der Untreue schuldig machte gegenüber der Frau, die er geliebt hatte.
Also fuhr er nach Newton, um Wiedergutmachung zu leisten. Um sein Gewissen zu beruhigen.
Er hielt einen Blumenstrauß in der Hand, als er in den Vorgarten trat und das eiserne Gartentor hinter sich schloss. Das ist wie Eulen nach Athen tragen, dachte er, als er den Blick durch den Garten schweifen ließ, in den inzwischen schon die Abendschatten fielen. Jedes Mal, wenn er hierher zu Besuch kam, schienen sich noch mehr Blumen auf dem beengten Raum zu drängen. Winden und Heckenrosen wuchsen an der Hauswand empor, sodass der Garten sich auch himmelwärts auszudehnen schien. Er schämte sich beinahe wegen der bescheidenen Gänseblümchen, die er mitgebracht hatte. Aber das waren nun mal Marys Lieblingsblumen gewesen, und er hatte es sich schon fast zur festen Gewohnheit gemacht, am Blumenstand einen Gänseblümchenstrauß auszusuchen. Mary hatte sie wegen ihrer fröhlichen Unkompliziertheit gemocht, mit ihren weißen Blätterkränzen und den zitronengelben Sonnen in der Mitte, und sie hatte ihren Duft gemocht – nicht übermäßig süß, aber durchdringend. Nachdrücklich. Es hatte ihr gefallen, wie sie auf unbebauten Grundstücken und an Straßenrändern gediehen und uns so daran erinnerten, dass wahre Schönheit spontan und unbezähmbar ist.
Wie Mary selbst.
Er klingelte. Einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet, und das Gesicht, das ihn anlächelte, glich so sehr dem Marys, dass der Anblick ihm einen inzwischen vertrauten Stich versetzte. Rose Connelly hatte die blauen Augen und runden Wangen ihrer Tochter, und obwohl ihr Haar beinahe völlig ergraut war und das Alter ihren Zügen seinen Stempel aufgedrückt hatte, ließ die Ähnlichkeit keinen Zweifel daran, dass sie Marys Mutter war.
»Wie schön, dich zu sehen, Thomas«, begrüßte sie ihn. »Es ist eine Weile her, dass du den Weg hierher gefunden hast.«
»Das tut mir auch Leid, Rose. In letzter Zeit wird es immer schwieriger, die Zeit zu finden. Ich weiß kaum noch, welchen Tag wir haben.«
»Ich habe den Fall im Fernsehen verfolgt. Was hast du dir doch für einen furchtbaren Beruf ausgesucht.«
Er trat ins Haus und reichte ihr den Strauß. »Nicht, dass du noch mehr Blumen brauchen würdest«, sagte er mit ironischem Lächeln.
»Man kann nie zu viele Blumen haben. Und du weißt ja, wie ich Gänseblümchen liebe. Möchtest du einen Eistee?«
»Sehr gerne, danke.«
Sie setzten sich ins Wohnzimmer und nippten an ihrem Tee. Er schmeckte süß und sommerlich, so wie sie ihn in South Carolina tranken, wo Rose geboren war. Ganz anders als das trübe Gebräu, das Moore als Kind in New England immer getrunken hatte. Das Zimmer selbst war lieblich wie der Tee und nach Bostoner Maßstäben hoffnungslos altmodisch. Zu viel Chintz, zu viel Nippes. Aber wie sehr es ihn an Mary erinnerte! Sie war überall. Fotos von ihr hingen an den Wänden. Ihre Schwimmpokale zierten die Bücherregale. Ihr Klavier, auf dem sie als Kind gespielt hatte, stand in der Wohnzimmerecke. Der Geist dieses Kindes war immer noch präsent in dem Haus, in dem es aufgewachsen war. Und Rose war hier, die Bewahrerin der Flamme, die ihrer Tochter so sehr glich, dass Moore manchmal glaubte, Mary selbst blicke ihn aus Roses blauen Augen an.
»Du siehst müde aus«, sagte sie.
»Tatsächlich?«
»Du hast überhaupt keinen Urlaub gehabt, stimmt’s?«
»Sie haben mich zurückgerufen. Ich saß schon im Wagen und war unterwegs Richtung Maine. Mit meinen Angelruten im Kofferraum und der nagelneuen Ausrüstung, die ich mir gekauft hatte.« Er seufzte. »Der See fehlt mir. Das ist das Einzige, worauf ich mich das ganze Jahr über freue.«
Auch Mary hatte sich immer das ganze Jahr darauf gefreut. Er blickte nach den Schwimmtrophäen im Regal. Mary war eine robuste kleine Meerjungfrau gewesen, die ohne Zögern ihr ganzes Leben im Wasser verbracht hätte, wäre sie nur mit Kiemen zur Welt gekommen. Er erinnerte sich, mit welch sauberen und kräftigen Armzügen sie einmal den See durchschwommen hatte. Und wie dieselben Arme später im Pflegeheim zu dürren Zweigen verkümmert waren.
»Wenn der Fall aufgeklärt ist«, meinte Rose, »könntest du immer noch an den
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