Die Chirurgin
See fahren.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir ihn aufklären werden.«
»So kenne ich dich ja gar nicht. So mutlos.«
»Das ist eine andere Sorte von Verbrechen. Begangen von einem Menschen, der mir vollkommen unbegreiflich ist.«
»Du schaffst es doch immer.«
»Immer?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Das wäre zu viel der Ehre.«
»Das hat Mary immer gesagt. Sie hat gerne mit dir angegeben, weißt du. Er erwischt die Kerle immer. «
Aber zu welchem Preist, fragte er sich, und sein Lächeln verblasste. Er dachte an all die Nächte, in denen er an irgendeinen Tatort gerufen worden war, die verpassten Abendessen, die Wochenenden, an denen er an nichts anderes hatte denken können als an die Arbeit. Und immer war Mary dagewesen, die geduldig darauf gewartet hatte, dass er sich ihr zuwandte. Wenn ich auch nur einen Tag noch einmal leben dürfte, würde ich jede Minute mit dir verbringen. Und dir unter der warmen Bettdecke Geheimnisse ins Ohr flüstern.
Aber Gott gewährt einem keine zweite Chance.
»Sie war so stolz auf dich«, sagte Rose.
»Ich war stolz auf sie.«
»Ihr hattet zwanzig gute Jahre miteinander. Das ist mehr, als die meisten von sich behaupten können.«
»Ich bin unersättlich, Rose. Ich wollte mehr.«
»Und du bist wütend, weil du es nicht bekommen hast.«
»Ja, das bin ich wohl. Es macht mich wütend, dass ausgerechnet sie das Aneurysma bekommen musste. Dass ausgerechnet sie es war, die nicht gerettet werden konnte. Und ich bin wütend, weil …« Er brach ab. Stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es tut mir Leid. Es ist ganz einfach schwer. Alles ist so schwer in letzter Zeit.«
»Für uns beide«, sagte sie leise.
Sie sahen einander schweigend an. Ja, natürlich musste es für die verwitwete Rose noch schwerer sein, die ihr einziges Kind verloren hatte. Er fragte sich, ob sie ihm wohl verzeihen würde, wenn er je wieder heiraten sollte. Oder würde sie darin einen Verrat sehen? Der die Erinnerung an ihre Tochter noch tiefer in die Gruft des Vergessens senkte?
Plötzlich konnte er ihren Blick nicht mehr ertragen und wandte die Augen ab. Wieder quälten ihn die gleichen Schuldgefühle wie an diesem Nachmittag, als er Catherine Cordell angeschaut und das unverwechselbare Aufflackern des Verlangens verspürt hatte.
Er stelle sein leeres Glas ab und stand auf. »Ich sollte jetzt los.«
»Musst du etwa schon wieder an die Arbeit?«
»Die Arbeit ist erst beendet, wenn wir ihn erwischt haben.«
Sie begleitete ihn zur Tür und sah ihm nach, als er durch den winzigen Garten zum Tor ging. Er wandte sich noch einmal um und sagte: »Verschließ deine Türen, Rose.«
»Ach, das sagst du doch immer.«
»Und ich meine es jedes Mal ernst.« Er winkte ihr zu. Während er zu seinem Wagen ging, dachte er: Und heute Abend meine ich es so ernst wie nie.
Wohin wir gehen, hängt davon ab, was wir wissen; und was wir wissen, hängt davon ab, wohin wir gehen.
Der Spruch lief wieder und wieder in Jane Rizzolis Kopf ab, wie ein Kinderlied, das einen nicht mehr loslässt. Sie starrte auf den Stadtplan von Boston, den sie an eine große Pinnwand in ihrer Wohnung geheftet hatte. Einen Tag nach der Entdeckung von Elena Ortiz’ Leiche hatte sie ihn aufgehängt. Im Lauf der Ermittlungen hatte sie immer mehr farbige Stifte in die Karte gesteckt. Drei verschiedene Farben standen für drei verschiedene Frauen. Weiß für Elena Ortiz, blau für Diana Sterling und grün für Nina Peyton. Jeder Stift markierte einen bekannten Ort innerhalb des Aktionsradius einer der Frauen. Ihre Wohnung, ihren Arbeitsplatz, die Wohnungen von Freunden und Verwandten. Die medizinischen Einrichtungen, die sie besucht hatten. Kurz, das Habitat der Beute. Irgendwann im Laufe ihrer alltäglichen Aktivitäten hatte sich die Welt dieser Frauen an einer bestimmten Stelle mit der des Chirurgen überschnitten.
Wohin wir gehen, hängt davon ab, was wir wissen; und was wir wissen, hängt davon ab, wohin wir gehen.
Und wo hielt sich der Chirurg auf? Das fragte sie sich nun. Woraus bestand seine Welt?
Sie saß bei ihrem kalten Abendessen, bestehend aus einem Thunfischsandwich und Kartoffelchips mit Bier, und aß, ohne den Blick von dem Stadtplan zu wenden. Sie hatte ihn gleich neben ihrem Esstisch an die Wand gehängt, und jeden Morgen beim Kaffee, jeden Abend beim Abendessen – vorausgesetzt, sie kam so früh nach Hause – wanderte ihr Blick unweigerlich zu diesen farbigen Stiften. Andere Frauen mochten Bilder von Blumen oder
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