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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sich zu verteidigen. Erst mit Einbruch der Dunkelheit wird alles anders.«
    Er hielt vor ihrem Haus an. Es hatte zwar nicht den Charme der älteren Backsteinbauten an der Commonwealth Avenue, doch einer seiner Vorzüge war die abschließbare und hell erleuchtete Tiefgarage. Um die Haustür zu öffnen, brauchte man sowohl den Schlüssel als auch den korrekten Sicherheitscode, den Catherine nun eintippte.
    Sie betraten eine Eingangshalle mit Spiegeln und poliertem Marmorfußboden. Elegant, aber steril. Kalt. Ein Fahrstuhl, der so geräuschlos war, dass es einen nervös machen konnte, beförderte sie im Nu in den ersten Stock.
    An ihrer Wohnungstür zögerte sie, den neuen Schlüssel in der Hand.
    »Ich kann kurz reingehen und mich umsehen, wenn Ihnen dann wohler wäre.«
    Sie schien seinen Vorschlag als persönlichen Affront aufzufassen. Statt einer Antwort schob sie den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und trat ein. Es war, als müsse sie sich selbst beweisen, dass der Chirurg nicht gewonnen hatte. Dass sie ihr Leben immer noch im Griff hatte.
    »Lassen Sie uns doch einmal durch alle Zimmer gehen«, schlug er vor. »Nur damit wir wissen, dass alles unverändert ist.«
    Sie nickte.
    Zusammen gingen sie durch das Wohnzimmer und die Küche. Und zuletzt ins Schlafzimmer. Sie wusste, dass der Chirurg sich von anderen Frauen Souvenirs mitgenommen hatte, und so durchkämmte sie akribisch ihre Schmuckschatulle und die Schubladen der Kommode auf der Suche nach irgendwelchen Spuren einer unbefugten Hand. Moore stand in der Tür und schaute ihr dabei zu, wie sie Blusen, Pullover und Unterwäsche durchsah. Und plötzlich drängte sich ihm eine verstörende Erinnerung an die Kleider einer anderen Frau auf. Längst nicht so schick wie diese, lagen sie zusammengefaltet in einem Koffer; er erinnerte sich an einen grauen Pullover, eine verwaschene pinkfarbene Bluse. Ein Baumwollnachthemd mit blauem Kornblumenmuster. Nichts Nagelneues, nichts allzu Teures. Warum hatte er Mary nie irgendetwas Ausgefallenes gekauft? Wofür hatten sie seiner Meinung nach sparen müssen? Nicht für das, wofür das Geld letzten Endes draufgegangen war. Rechnungen von Ärzten, Pflegeheimen, Physiotherapeuten.
    Er wandte sich von der Schlafzimmertür ab und ging ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch setzte. Die Spätnachmittagssonne schien durch das Fenster herein, und ihre grellen Strahlen blendeten ihn. Er rieb sich die Augen und ließ den Kopf in die Hände sinken. Er wurde von Schuldgefühlen überwältigt, weil er den ganzen Tag nicht ein einziges Mal an Mary gedacht hatte. Er schämte sich deswegen. Und er schämte sich noch mehr, als er den Kopf hob und Catherine erblickte, worauf alle Gedanken an Mary augenblicklich vergessen waren. Er dachte: Das ist die schönste Frau, die ich je kennen gelernt habe.
    Und auch die mutigste.
    »Es fehlt nichts«, sagte sie. »So weit ich das feststellen kann.«
    »Sind Sie sicher, dass Sie hier bleiben wollen? Ich wäre gerne bereit, Sie in ein Hotel zu fahren.«
    Sie ging zum Fenster und starrte hinaus. Ihr Profil zeichnete sich im goldenen Licht des Sonnenuntergangs ab. »Ich habe die letzten zwei Jahre in Angst verbracht. Ich habe die Welt mit Riegeln und Sicherheitsschlössern ausgesperrt. Immer hinter Türen geschaut und Schränke durchsucht. Ich habe es satt.« Sie schaute ihn an. »Ich will mein Leben wiederhaben. Diesmal werde ich ihn nicht gewinnen lassen.«
    Diesmal, hatte sie gesagt, als sei dies eine Schlacht in einem viel länger andauernden Krieg. Als seien der Chirurg und Capra zu einem einzigen Wesen verschmolzen, das sie vor zwei Jahren kurzzeitig niedergerungen, aber nicht wirklich besiegt hatte. Capra. Der Chirurg. Zwei Köpfe desselben Ungeheuers.
    »Sie sagten, draußen würde die Nacht über ein Streifenwagen stehen«, sagte sie.
    »Er wird da sein.«
    »Das garantieren Sie?«
    »Hundertprozentig.«
    Sie holte tief Luft, und das Lächeln, mit dem sie ihn ansah, kostete sie eine gehörige Anstrengung. »Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen, oder?«, meinte sie.
    Es waren die Schuldgefühle, die ihn dazu trieben, an diesem Abend nicht gleich nach Hause zu fahren, sondern vorher in Newton vorbeizuschauen. Er war zutiefst verstört über seine eigene Reaktion auf Catherine, und die Art, wie sie seine Gedanken inzwischen ganz und gar zu beherrschen schien, machte ihm Sorgen. In den anderthalb Jahren nach Marys Tod hatte er das Leben eines Mönchs geführt, hatte nicht das geringste

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