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Die Chirurgin

Die Chirurgin

Titel: Die Chirurgin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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idyllischen Landschaften aufhängen oder Kinoplakate, sie aber saß hier und starrte auf eine Karte des Todes, auf der die Bewegungen von Verstorbenen verzeichnet waren.
    Darauf hatte ihr Leben sich inzwischen reduziert: Essen, Schlafen, Arbeiten. Sie wohnte schon drei Jahre in dieser Wohnung, aber die Wände waren immer noch fast kahl. Keine Pflanzen (wer hatte denn schon Zeit, sie zu gießen?), kein alberner Nippes, nicht einmal Vorhänge. Nur Jalousien an den Fenstern. Wie ihr ganzes Leben war auch ihre Wohnung streng nach den Erfordernissen ihrer Arbeit eingerichtet. Sie liebte ihren Job und lebte für ihn. Schon mit zwölf hatte sie gewusst, dass sie Polizistin werden wollte; seit dem Tag, als eine Kriminalbeamtin im Rahmen der Berufsberatung ihre Schule besucht hatte. Zuerst hatte eine Krankenschwester sich an die Klasse gewandt, dann eine Rechtsanwältin, dann ein Bäcker und ein Ingenieur. Der Lärmpegel in der Klasse war stetig gestiegen. Gummis und Papierkügelchen waren zwischen den Bänken hin und her gesaust. Schließlich hatte die Polizistin sich erhoben, mit ihrer Waffe im Halfter an der Hüfte, und im Klassenzimmer war schlagartig Ruhe eingekehrt.
    Das hatte Rizzoli nie vergessen. Sie hatte nie vergessen, mit welch ehrfürchtigem Staunen die Jungs diese Frau angestarrt hatten.
    Jetzt war sie selbst diese Polizistin, doch wenn sie auch Zwölfjährige beeindrucken konnte, versagten ihr erwachsene Männer oft genug jeden Respekt.
    Die Beste sein, das war ihre Strategie. Die anderen an die Wand arbeiten, sie in den Schatten stellen. Und deshalb saß sie nun hier und arbeitete noch während des Abendessens. Mord und Thunfischsandwichs. Sie nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Bier, dann lehnte sie sich zurück und starrte wieder den Stadtplan an. Die Humangeographie der Toten hatte etwas Beklemmendes. Die Orte, an denen sie ihr Leben verbracht hatten, die ihnen etwas bedeutet hatten. Gestern bei der Besprechung hatte der Kriminalpsychologe Dr. Zucker diverse Fachausdrücke fallen lassen. Anker- und Knotenpunkte. Hintergrundspektren. Nun, sie brauchte weder Zuckers Fachchinesisch noch irgendwelche Computerprogramme, um zu wissen, was sie da vor Augen hatte und wie sie es interpretieren musste. Sie sah den Stadtplan an und stellte sich eine Savanne vor, in der es von Beutetieren nur so wimmelte. Die farbigen Stifte beschrieben den persönlichen Lebensraum dreier glückloser Gazellen. Das Zentrum von Diana Sterlings Welt lag im Norden, in der Back Bay und in Beacon Hill. Bei Elena Ortiz war es das South End, und Nina Peytons Zentrum lag im Südwesten, in dem Vorort Jamaica Plain. Drei klar unterschiedene Habitate, ohne jegliche Überschneidung.
    Und wo ist dein Revier?
    Sie versuchte die Stadt mit seinen Augen zu sehen. Sie sah Wolkenkratzerschluchten, Grünflächen wie Streifen von Weideland. Pfade, über die Herden von Beutetieren dahinzogen, ohne zu ahnen, dass ein Jäger sie beobachtete. Ein umherstreifendes Raubtier, das über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg zuschlug.
    Das Telefon klingelte. Sie zuckte zusammen und stieß dabei die Bierflasche um. Mist. Sie schnappte sich eine Rolle Küchenpapier und wischte die Bescherung auf, während sie den Hörer abhob.
    »Rizzoli.«
    »Hallo, Janie?«
    »Oh. Hallo, Ma.«
    »Du hast gar nicht zurückgerufen.«
    »Hm?«
    »Ich habe dich vor ein paar Tagen angerufen. Du sagtest, du würdest zurückrufen, aber das hast du nicht getan.«
    »Ich habe nicht mehr dran gedacht. Ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit.«
    »Frankie kommt nächste Woche heim. Ist das nicht großartig?«
    »Ja.« Rizzoli seufzte. »Das ist großartig.«
    »Du siehst deinen Bruder einmal im Jahr. Könntest du dich nicht ein bisschen mehr freuen?«
    »Ma, ich bin müde. Dieser Fall mit dem Chirurgen beschäftigt uns rund um die Uhr.«
    »Hat die Polizei ihn schon gefasst?«
    »Ich bin die Polizei.«
    »Du weißt schon, wie ich das meine.«
    Ja, das wusste sie allerdings. Ihre Mutter bildete sich wahrscheinlich ein, dass die kleine Janie Telefondienst machte und für diese superwichtigen männlichen Kriminalbeamten Kaffee kochte.
    »Du kommst doch zum Essen, ja?«, sagte ihre Mutter. Janes Arbeit war schon kein Thema mehr. »Nächsten Freitag.«
    »Ich weiß noch nicht. Das hängt davon ab, wie der Fall sich entwickelt.«
    »Ach, du könntest wenigstens deinem eigenen Bruder den Gefallen tun.«
    »Wenn es wirklich heiß hergeht, werde ich es vielleicht verschieben müssen.«
    »Wir

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