Die Chirurgin
können es nicht verschieben. Mike hat schon zugesagt, am Freitag zu kommen.«
Ja, natürlich. Bruder Michael geht selbstverständlich vor.
»Janie?«
»Ja, Ma. Am Freitag.«
Sie legte auf. Ihr Magen krampfte sich vor aufgestautem Ärger zusammen; ein Gefühl, das sie nur zu gut kannte. Du liebe Zeit, wie hatte sie es nur geschafft, ihre Kindheit zu überleben?
Sie griff nach der Bierflasche und ließ sich die wenigen nicht verschütteten Tropfen durch die Kehle rinnen. Dann blickte sie wieder zu der Karte auf. Nie war es ihr so wichtig gewesen wie in diesem Moment, den Chirurgen zu fassen. All die Jahre als das unscheinbare Mädchen, die von allen ignorierte Schwester, ließen sie ihre ganze geballte Wut gegen ihn richten.
Wer bist du! Wo bist du?
Sie verharrte einen Moment vollkommen reglos, den Blick starr auf den Stadtplan gerichtet. Sie dachte nach. Dann griff sie nach der Schachtel mit den Stiften und wählte eine neue Farbe. Sie steckte einen roten Stift in die Commonwealth Avenue und einen weiteren in den Standort des Pilgrim Hospital im South End.
Die roten Stifte markierten Catherine Cordells Habitat. Es überschnitt sich sowohl mit dem von Diana Sterling als auch mit dem von Elena Ortiz. Cordell war der gemeinsame Faktor. Sie bewegte sich in den Welten beider Opfer.
Und das Leben des dritten Opfers, Nina Peyton, ruht in diesem Augenblick in ihrer Hand.
10
Sogar am frühen Montagabend ging es im Gramercy Pub so richtig ab. Es war neunzehn Uhr, und die besser verdienenden Singles waren in Scharen unterwegs, um sich auszutoben. Dieses Lokal war ihr Spielplatz.
Rizzoli saß an einem Tisch in der Nähe des Eingangs, und jedes Mal, wenn die Tür sich öffnete und wieder einmal ein GQ-Klon oder eine Vorzimmer-Barbie auf Zehn-Zentimeter-Absätzen hereinrauschte, wehte ihr ein Hauch der heißen Stadtluft ins Gesicht. Mit ihrem üblichen nüchternen Hosenanzug und ihren zweckmäßigen flachen Schuhen kam sich Rizzoli vor wie die Aufsicht in einem tobenden Klassenzimmer. Sie sah zwei Frauen geschmeidig wie Katzen hereinschweben, gefolgt von einer gemischten Duftfahne. Rizzoli trug nie Parfüm. Sie besaß einen einzigen Lippenstift, der irgendwo in einer Ecke ihres Badezimmerschranks herumrollte, zusammen mit dem eingetrockneten Mascara und der Grundierungscreme. Sie hatte das Make-up vor fünf Jahren an einem Kosmetikstand im Warenhaus gekauft, weil sie geglaubt hatte, mit dem passenden illusionistischen Handwerkszeug könne auch sie wie das Covergirl Elizabeth Hurley aussehen. Die Verkäuferin hatte sie eingecremt und gepudert, bemalt und bepinselt, und als sie fertig war, hatte sie Rizzoli mit triumphierender Geste einen Spiegel gereicht und gefragt: »Na, wie finden Sie Ihren neuen Look?«
Als Rizzoli ihr Spiegelbild angestarrt hatte, wusste sie, dass sie Elizabeth Hurley hasste, weil sie den Frauen falsche Hoffnungen machte. Die brutale Wahrheit war, dass es nun einmal Frauen gab, die nie schön sein würden; und Rizzoli war eine von ihnen.
Und so saß sie unbemerkt in ihrer Ecke und nippte an ihrem Ginger Ale, während sie zusah, wie sich das Lokal allmählich füllte. Es ging recht geräuschvoll zu, mit vielstimmigem Geplauder und Klirren von Eiswürfeln. Das Lachen klang immer ein wenig zu laut, ein wenig zu gezwungen.
Sie stand auf und bahnte sich einen Weg zur Theke. Dort ließ sie den Barkeeper ihre Dienstmarke sehen und sagte: »Ich habe ein paar Fragen an Sie.«
Er warf nur einen flüchtigen Blick auf die Marke und tippte den Preis eines Getränks in die Kasse ein. »Okay, schießen Sie los.«
»Erinnern Sie sich, diese Frau hier im Lokal gesehen zu haben?« Rizzoli legte ein Foto von Nina Peyton auf die Theke.
»Ja, und Sie sind auch nicht die erste Polizistin, die nach ihr fragt. Vor einem Monat oder so war schon mal eine von der Kripo hier.«
»Von der Abteilung Sexualdelikte?«
»Nehme ich an. Sie wollte wissen, ob ich gesehen hätte, wie irgendjemand die Frau auf dem Bild abzuschleppen versucht hat.«
»Und haben Sie etwas gesehen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Hier sind doch alle ständig auf der Pirsch. Ich kann nicht alles mitkriegen.«
»Aber Sie erinnern sich an diese Frau? Ihr Name ist Nina Peyton.«
»Ich habe sie ein paarmal hier gesehen, meistens mit einer Freundin. Ihren Namen kenne ich nicht. Ist schon länger nicht mehr hier gewesen.«
»Wissen Sie, warum?«
»Nee.« Er griff nach einem Lappen und machte sich daran, die Theke abzuwischen. Rizzoli hatte er fast
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