Die Chirurgin
schon vergessen.
»Ich werde Ihnen verraten, warum«, sagte sie, die Stimme im Zorn erhoben. »Weil irgendein Schwein sich mal so richtig amüsieren wollte. Also ist er hierher gekommen und hat sich nach einem Opfer umgesehen. Er hat Nina Peyton entdeckt und sich gedacht: Was für eine geile Schnalle. Mit Sicherheit hat er kein menschliches Wesen gesehen, als er sie angegafft hat. Er sah nur irgendein Objekt, das er benutzen und dann wegwerfen konnte.«
»Das brauchen Sie mir nicht zu erzählen.«
»O doch. Und Sie müssen es sich anhören, denn das ist direkt vor Ihrer Nase passiert, und Sie haben beschlossen, nicht hinzusehen. Irgendein Schwein schüttet einer Frau heimlich Betäubungsmittel in den Drink. Wenig später wird ihr schlecht, und sie wankt zur Toilette. Das Schwein nimmt sie am Arm und führt sie nach draußen. Und von all dem wollen Sie nichts gesehen haben?«
»Nein«, gab er wütend zurück. »Gar nichts hab ich gesehen!«
Um sie herum war es still geworden. Sie merkte, dass die Leute sie anstarrten. Wortlos marschierte sie zu ihrem Tisch zurück.
Kurz darauf setzte das Stimmengewirr wieder ein.
Sie beobachtete, wie der Barkeeper einem Mann zwei Whiskys zuschob und der Mann einen davon an eine Frau weiterreichte. Sie beobachtete, wie Gläser an Lippen geführt wurden und wie Zungen das Salz von Margaritagläsern ableckten; sie sah, wie Köpfe in den Nacken gelegt und Wodka, Tequila und Bier in die Kehlen geschüttet wurden.
Und sie sah Männer, die Frauen anstarrten. Sie nahm einen Schluck von ihrem Ginger Ale und fühlte sich wie berauscht – nicht vom Alkohol, sondern vom Zorn. Sie, die einsame Frau in der Ecke, erkannte mit erstaunlicher Klarheit, was dieses Lokal in Wirklichkeit war: ein Wasserloch in der Wüste, an dem sich die Wege von Raubtieren und Beutetieren kreuzten.
Ihr Piepser meldete sich. Es war Barry Frost. Sie rief ihn mit ihrem Handy zurück.
»Was ist denn das für ein Lärm?«, fragte Frost. Sie konnte ihn kaum verstehen.
»Ich bin in einer Kneipe.« Sie wandte sich um und schoss einen wütenden Blick zum Nebentisch, von wo schallendes Gelächter ertönte. »Was haben Sie gesagt?«
»… einer Arztpraxis in der Marlborough Street. Ich habe eine Kopie von ihren Krankenunterlagen.«
»Wessen Krankenunterlagen?«
»Diana Sterlings.«
Sofort beugte Rizzoli sich vor, alle Aufmerksamkeit auf Frosts schwache Stimme konzentriert. »Sagen Sie das noch einmal. Wer ist der Arzt, und weshalb war Sterling bei ihm?«
»Der Arzt ist eine Sie. Dr. Bonnie Gillespie. Eine Gynäkologin mit einer Praxis in der Marlborough Street.«
Wieder übertönte lärmendes Gelächter seine Worte. Rizzoli hielt sich ein Ohr zu, um hören zu können, was er als Nächstes sagte. »Weshalb war Sterling bei ihr?«, schrie sie ins Telefon.
Aber sie kannte die Antwort bereits; sie hatte sie direkt vor Augen, wenn sie zur Theke blickte, wo sich eben zwei Männer einer Frau näherten wie Löwen, die sich an ein Zebra heranschleichen.
»Ein Sexualverbrechen«, sagte Frost. »Diana Sterling wurde auch vergewaltigt.«
»Alle drei waren Opfer sexueller Gewalt«, sagte Moore.
»Aber weder Elena Ortiz noch Diana Sterling haben Anzeige erstattet. Im Fall von Sterling kamen wir nur dahinter, weil wir bei den hiesigen Frauenkliniken und Gynäkologen nachforschten, um herauszufinden, ob sie deswegen in Behandlung war. Sterling hatte noch nicht einmal ihren Eltern von der Vergewaltigung erzählt. Als ich sie heute Morgen anrief und es ihnen sagte, waren sie völlig geschockt.«
Es war noch lange nicht Mittag, doch die Gesichter, die er um den Konferenztisch herum erblickte, wirkten ausgelaugt. Sie litten alle unter Schlafmangel, und ein weiterer voller Arbeitstag dehnte sich vor ihnen aus.
»Die einzige Person, die über Sterlings Vergewaltigung Bescheid wusste, war also diese Gynäkologin in der Marlborough Street?«, fragte Lt. Marquette.
»Dr. Bonnie Gillespie. Diana Sterling war nur dieses eine Mal dort. Sie suchte die Praxis auf, weil sie fürchtete, sich mit dem Aids-Virus infiziert zu haben.«
»Was wusste Dr. Gillespie über die Vergewaltigung?«
Frost, der die Ärztin vernommen hatte, beantwortete die Frage. Er schlug die Mappe mit Diana Sterlings Krankenunterlagen auf. »Dr. Gillespie hat Folgendes notiert: ›Dreißigjährige Weiße wünscht HIV-Test. Ungeschützter Verkehr vor fünf Tagen, HIV-Status des Partners unbekannt. Gefragt, ob ihr Partner einer Risikogruppe angehöre, verlor die
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