Die Chronik der Drachenlanze 3 + 4
zuckten bei dem plötzlichen blendenden Licht auf, das Silvara hielt.
»Wir brauchen Licht«, sagte sie, bevor jemand protestieren konnte. »Fürchtet euch nicht. Das Tal ist vollkommen abgeriegelt. Vor langer Zeit gab es zwei Zugänge: Einer führte zu menschlichen Gebieten, wo die Ritter einen Außenposten halten, der andere nach Osten in das Land der Oger. Beide Zugänge sind während der Umwälzung verlorengegangen. Wir brauchen uns nicht zu fürchten. Ich habe euch auf einenWeg geführt, der nur mir bekannt ist.«
»Und deinem Volk«, erinnerte Laurana sie scharf.
»Ja – meinem Volk . . .«, sagte Silvara, und Laurana war überrascht, das Mädchen erbleichen zu sehen.
»Wohin bringst du uns?« fragte Laurana.
»Das wirst du sehen. In einer Stunde werden wir am Ziel sein.«
Die Gefährten blickten sich an, dann zu Laurana.
Verdammt, dachte sie. »Seht mich nicht so erwartungsvoll an!« sagte sie wütend. »Was wollt ihr von mir? Hier stehenbleiben, verloren im Nebel...«
»Ich will euch nicht verraten!« murmelte Silvara verzweifelt. »Bitte vertraut mir – wenigstens ein wenig.«
»Geh voran«, sagte Laurana müde. »Wir folgen.«
Der Nebel schien sie noch dichter einzuhüllen, so daß schließlich nur noch das Licht von Silvaras Fackel zu erkennen war.
Keiner hatte eine Vorstellung, in welche Richtung sie gingen. Die Landschaft veränderte sich nicht. Sie wanderten durch hohes Gras. Hier wuchsen keine Bäume. Gelegentlich ragte ein riesiger Findling aus der Dunkelheit hervor, aber das war auch alles. Es gab kein Anzeichen von Vögeln und Tieren. Ein Gefühl von Dringlichkeit machte sich zunehmend bemerkbar, das alle spürten, und sie beschleunigten ihre Schritte.
Dann hielt Silvara plötzlich ohneWarnung an.
»Wir sind da«, sagte sie und hielt die Fackel hoch.
Das Licht der Fackel durchbrach den Nebel. Sie konnten alle etwas Schattenhaftes vor sich erkennen.
Silvara ging näher heran. Sie folgten ihr neugierig und ängstlich.
Dann wurde die Stille der Nacht durch blubbernde Geräusche, wie kochendesWasser in einem riesigen Kessel, durchbrochen. Der Nebel wurde wieder dichter, die Luft war warm und drückend.
»Heiße Quellen!« sagte Theros, der plötzlich verstand. »Genau, das erklärt den ständigen Nebel. Und dieser dunkle Umriß...«
»Die Brücke, die über sie führt«, entgegnete Silvara und richtete ihre Fackel auf etwas, das sie nun als eine Steinbrücke erkennen konnten, die über das dampfendeWasser führte.
»Da sollen wir rübergehen!« rief Flint aus und starrte entsetzt auf das schwarze, sprudelnde Wasser. »Da sollen wir rübergehen . . .«
»Sie wird die Gangbrücke genannt«, erklärte Silvara.
Die einzige Antwort des Zwerges war ein unterdrücktesWürgen.
Die Gangbrücke war ein langer Brückenbogen aus purem
weißem Marmor. Auf beiden Seiten erhoben sich hohe Säulen mit lebensgetreuen Abbildungen von Rittern, die über das sprudelndeWasser gingen. Der Bogen wölbte sich so weit in die Höhe, daß sie durch den Nebel nicht seine Spitze erkennen konnten. Und die Brücke war alt, so alt, daß Flint andächtig den Stein berührte. Er konnte jedoch nicht erkennen, wer ihr Baumeister gewesen war, es war weder dasWerk von Zwergen oder Elfen noch von Menschen. Wer hatte diese wunderschöne Arbeit ausgeführt?
Dann bemerkten sie, daß es keine Handläufe gab, nur die Marmorbögen, glitschig und glänzend vom Nebel, der ständig von den Quellen hochwallte.
»Wir können nicht hinübergehen«, sagte Laurana mit bebender Stimme. »Und jetzt sind wir in der Falle...«
»Wir können hinübergehen«, sagte Silvara. »Denn wir sind aufgefordert, zu kommen.«
»Aufgefordert?« wiederholte Laurana wütend. »Von wem? Wo?«
»Wartet«, befahl Silvara.
Sie warteten. Sie hatten keine andere Wahl. Sie standen um die Fackel und starrten sie an, aber sie sahen nur den Nebel aufsteigen und hörten nur das sprudelnde Wasser.
»Die Zeit für Solinari ist gekommen«, sagte Silvara plötzlich, schwang ihrenArm – und schleuderte die Fackel in das Wasser.
Die Dunkelheit verschluckte sie. Instinktiv rückten sie enger zusammen. Silvara schien mit dem Licht verschwunden zu sein. Gilthanas rief nach ihr, aber sie antwortete nicht.
Dann verwandelte sich der Nebel in schimmerndes Silber. Sie konnten wieder etwas sehen; und jetzt konnten sie auch Silvara sehen, ein dunkler, schattenhafter Umriß gegen den silbernen Nebel. Sie stand am Fuß der Brücke und starrte in den Himmel. Langsam
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