Die Chronik der Drachenlanze 3 + 4
nur die Furcht vor dieser Legende, die die Drachenarmee zwang, untätig herumzusitzen. Man brauchte keine Legende, um den Befehlshabern klarzumachen, daß das Einnehmen des Turms sehr große Opfer verlangen würde.
»Die Zeit arbeitet für uns«, hatte die Finstere Herrin vor ihrer Abreise erklärt. »Unsere Kundschafter berichten, daß die Ritter wenig Hilfe von Palanthas erhalten haben.Wir schneiden die Versorgung von der Vingaard-Burg zum Osten ab. Laß sie in ihren Turm sitzen und verhungern. Früher oder später werden sie aus Ungeduld und durch ihren Hunger Fehler machen. Dann werden wir bereit sein.«
»Wir könnten den Turm mit einer Drachenschar einnehmen«, murrte ein junger Befehlshaber. Sein Name war Bakaris, und wegen seines Mutes in der Schlacht und seines gutaussehenden Gesichtes war er in der Gunst der Finsteren Herrin gestiegen. Sie sah ihn jedoch grüblerisch an, als sie gerade ihren blauen Drachen, Skie, besteigen wollte.
»Vielleicht nicht«, erwiderte sie kühl. »Du hast die Berichte über das Wiederauffinden dieser uralten Waffe – der Drachenlanze – gehört?«
»Pah! Kindergeschichten!« Der junge Befehlshaber lachte, während er ihr auf Skies Rücken half. Der blaue Drache funkelte den gutaussehenden Befehlshaber mit wilden, feurigen Augen an.
»Lasse niemals Kindergeschichten unberücksichtigt«, sagte die Finstere Herrin, »denn es sind die gleichen Geschichten wie die über Drachen.« Sie zuckte die Schultern. »Mach dir keine
Sorgen, mein Schätzchen.Wenn meine Mission, den Hüter des grünen Juwels zu fangen, beendet ist, brauchen wir den Turm nicht anzugreifen, denn dann ist seine Zerstörung gewährleistet. Wenn nicht, dann bringe ich dir vielleicht eine Drachenschar mit.«
Damit spreizte der riesige blaue Drache seine Flügel und flog gen Osten auf eine kleine und erbärmliche Stadt zu, Treibgut am Blutmeer von Istar.
Und so wartete die Drachenarmee warm und behaglich an ihren Lagerfeuern, während – wie die Finstere Herrin es vorausgesagt hatte – die Ritter in ihrem Turm hungerten. Aber schlimmer noch als der Mangel an Nahrungsmitteln war die bittere Uneinigkeit in ihren eigenen Reihen.
Die jungen Ritter unter Sturm Feuerklinges Kommando hatten allmählich ihren in Ungnade gefallenen Führer in den harten Monaten nach ihrer Abreise von Sankrist schätzen gelernt. Obwohl melancholisch und häufig distanziert, gewannen Sturms Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit doch den Respekt und die Bewunderung seiner Männer. Es war ein hart erkämpfter Sieg, denn Sturm hatte stark unter Derek zu leiden. Ein weniger ehrenhafter Mann hätte gegenüber Dereks politischen Machenschaften ein Auge zugedrückt oder zumindest seinen Mund gehalten (so wie Fürst Alfred), aber Sturm trat ständig gegen Derek auf – obwohl er wußte, daß das seine Position noch mehr erschwerte.
Es war Derek gewesen, der die Bevölkerung von Palanthas gegen die Ritter aufgebracht hatte. Bereits mißtrauisch, mit alten Haßgefühlen und Bitterkeit erfüllt, waren die Bewohner der schönen ruhigen Stadt beunruhigt über Dereks Drohungen, als sie den Rittern die Erlaubnis verweigerten, die Stadt zu besetzen. Nur durch Sturms geduldige Verhandlungen erhielten die Ritter überhaupt Vorräte.
Die Situation verbesserte sich nicht, als die Ritter den Turm des Oberklerikers erreichten. Die Zerrissenheit der Ritter untergrub die Moral der Gefolgsleute, die sowieso schon durch den ständigen Hunger gelitten hatten. Sturms Ritter, die auch
auf Fürst Gunthers Seite standen, widersetzten sich immer mehr der Mehrheit der Ritter unter Derek. Nur durch den strikten Gehorsam brachen keine Kämpfe im Turm aus.Aber der demoralisierende Anblick der Drachenarmee, die in der Nähe ihr Lager aufgeschlagen hatte, und der Hunger führten zu einer gereizten und angespannten Atmosphäre.
Zu spät erkannte Fürst Alfred die Gefahr. Er bedauerte bitter seine eigene Dummheit, Derek unterstützt zu haben, denn jetzt konnte er deutlich erkennen, daß Derek Kronenhüter wahnsinnig wurde.
Der Wahnsinn nahm täglich zu; Dereks Machthunger verzehrte ihn und ließ ihn nicht mehr vernünftig denken. Aber Fürst Alfred war machtlos, etwas zu unternehmen. Die Ritter waren in ihrer rigiden Struktur so gefangen, daß es – gemäß dem Maßstab – nur über monatelange Ritterverhandlungen möglich wäre, Derek seinen Rang zu nehmen.
Die Nachricht von Sturms Entlastung durch Laurana schlug in diesen trockenen und zerbröckelnden Wald wie
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