Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
bemerkte, daß der Halb-Elf gehen wollte.
»Gewiß. Dort durch die Tür zu deiner Rechten ist ein kleines Zimmer«, deutete der Fürst.
In dem kleinen, luxuriös eingerichteten Zimmer standen sich die beiden Männer in unbehaglichem Schweigen lange Zeit gegenüber. Keiner sah den anderen direkt an. Gilthanas brach schließlich das Schweigen.
»Ich habe die Menschen immer verachtet«, sagte der Elfenlord langsam, »und jetzt bin ich dabei,Verantwortung für ihren Schutz zu übernehmen.« Er lächelte. »Es ist ein gutes Gefühl«, fügte er leise hinzu und sah Tanis zum ersten Mal direkt an.
Tanis’ Augen trafen Gilthanas’, und sein grimmiges Gesicht entspannte sich einen Moment lang, obwohl er das Lächeln des Elfenlords nicht erwiderte. Dann senkte sich sein Blick, seine Miene verdüsterte sich wieder.
»Du gehst nach Neraka, nicht wahr?« fragte Gilthanas.
Tanis nickte wortlos.
»Deine Freunde? Gehen sie mit dir?«
»Einige von ihnen«, erwiderte Tanis. »Sie wollen alle mitgehen, aber...« Er konnte nicht weitersprechen, als er sich an ihre Treue erinnerte. Er schüttelte den Kopf.
Gilthanas starrte auf einen reichverzierten Tisch, fuhr mit seiner Hand geistesabwesend über das glänzende Holz.
»Ich muß gehen«, sagte Tanis mit schwerer Stimme und ging zur Tür. »Ich habe noch eine Menge zu erledigen. Wir wollen um Mitternacht aufbrechen...«
»Warte.« Gilthanas legte seine Hand auf den Arne des Halb-Elfen. »Ich... ich wollte dir sagen, daß es mir leid tut... was ich dir heute morgen gesagt habe. Nein, Tanis, geh nicht. Hör mir zu. Es fällt mir nicht leicht.« Gilthanas schwieg einen Moment. »Ich habe eine Menge gelernt, Tanis – über mich. Die Lektionen waren nicht leicht gewesen. Ich vergaß sie wieder... als ich von Laurana erfuhr. Ich war wütend und verängstigt und wollte jemanden verletzen. Du warst das erstbeste Ziel. Was Laurana getan hat, tat sie aus Liebe zu dir. Ich habe auch eine Menge über Liebe gelernt, Tanis. Oder ich versuche zu lernen.« Seine Stimme war bitter. »Meistens lerne ich über den Schmerz. Aber das ist mein Problem.«
Tanis sah ihn nun voll an. Gilthanas’ Hand ruhte noch auf seiner Schulter.
»Ich weiß jetzt, nachdem ich Zeit zum Nachdenken hatte«, fuhr Gilthanas leise fort, »daß Laurana recht hatte mit dem, was sie tat. Sie mußte gehen, oder ihre Liebe wäre bedeutungslos gewesen. Sie hatte Vertrauen zu dir, glaubte so stark an dich, daß sie ging, als sie hörte, daß du im Sterben lägest, obwohl ihr klar war, daß das bedeuten könnte, zu einem bösen Ort zu gehen...«
Tanis senkte seinen Kopf. Gilthanas hielt ihn jetzt an beiden Schultern fest.
»Theros Eisenfeld sagte einmal, daß er in seinem ganzen Leben niemals gesehen hätte, daß etwas, was aus Liebe geschieht, zu etwas Bösem wird. Wir müssen daran glauben, Tanis. Was Laurana getan hat, hat sie aus Liebe getan. Was du jetzt tust, tust du auch aus Liebe. Die Götter werden sicher ihren Segen geben.«
»Haben sie Sturm gesegnet?« fragte Tanis barsch. »Er hat geliebt!«
»Haben sie nicht? Woher willst du es wissen?«
Tanis’ Hand legte sich über Gilthanas’. Er schüttelte den Kopf. Er wollte glauben. Es klang wunderschön, herrlich... wie die Geschichten über Drachen. Als Kind wollte er auch an Drachen glauben...
Seufzend löste er sich vom Elfenlord. Seine Hand lag bereits auf der Türklinke, als Gilthanas wieder sprach.
»Leb wohl... Bruder.«
Die Gefährten trafen sich an der Stadtmauer, an der Geheimtür, die Tolpan gefunden hatte und durch die man zu den Ebenen gelangte. Gilthanas hätte ihnen natürlich die Erlaubnis geben können, die Haupttore zu passieren, aber je weniger Leute von dieser dunklen Reise wußten, desto besser, insbesondere was Tanis betraf.
Jetzt hatten sie sich in dem kleinen Raum oben am Ende der Stufen versammelt. Solinari versank gerade hinter den fernen Bergen. Tanis, der abseits von den anderen stand, beobachtete den Mond, dessen silberne Strahlen die Zinnen der entsetzlichen über ihnen schwebenden Zitadelle berührten. Er konnte in dem fliegenden Schloß Lichter erkennen. Dunkle Schatten bewegten sich. Wer lebte wohl in diesem fürchterlichen Ding? Drakonier? Die schwarzgekleideten Magier und dunklen Kleriker, die es mit ihrer Macht aus der Erde gerissen hatten und es nun in dicken grauen Wolken treiben ließen?
Hinter sich hörte er die anderen leise reden – alle außer Berem. Er stand – von Caramon scharf bewacht – mit
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