Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
Angst! Ich sehe das Ende – es ist sehr nahe. Und ich habe Angst!«
»Wir haben alle Angst.« Tanis seufzte, rieb seine brennenden Augen. »Du hast recht – das Ende ist nahe, und es scheint voller Dunkelheit zu sein. Du trägst in dir die Antwort, Berem.«
»Ich ... ich werde euch sagen ... was ich weiß«, sagte Berem zögernd, als ob die Worte aus ihm herausgezogen würden. »Aber ihr müßt mir helfen!« Seine Hand klammerte sich um Tanis’. »Ihr müßt versprechen, mir zu helfen!«
»Ich kann es nicht versprechen«, sagte Tanis streng, »bis ich nicht die Wahrheit weiß.«
Berem setzte sich und lehnte seinen Rücken an den blutverschmierten Stein. Die anderen setzten sich zu ihm, zogen ihre Umhänge enger um sich, da Wind aufkam und an den Gebirgsseiten herunterpfiff und zwischen den seltsamen Findlingen heulte. Sie hörten sich Berems Geschichte an, ohne ihn zu unterbrechen, nur Tolpan wurde gelegentlich von einem Weinanfall geschüttelt und schneuzte sich leise; sein Kopf ruhte an Tikas Schulter.
Zuerst war Berems Stimme leise, seine Worte kamen widerstrebend. Manchmal sahen sie, wie er mit sich kämpfte, dann wieder stieß er die Worte aus, als ob sie schmerzen würden. Aber allmählich sprach er schneller und schneller, die Erleichterung, nach all den Jahren endlich die Wahrheit zu erzählen, überflutete seine Seele.
»Als ... als ich sagte, ich würde verstehen, wie du«, er nickte Caramon zu, »dich fühlst ... einen Bruder verloren zu haben, meinte ich es ernst. Ich . . . ich hatte eine Schwester.Wir . . . wir
waren keine Zwillinge, aber wir waren vermutlich so verbunden wie Zwillinge. Sie war nur ein Jahr jünger als ich. Wir lebten abgeschieden auf einem kleinen Bauernhof außerhalb von Neraka. Keine Nachbarn. Meine Mutter brachte uns zu Hause Lesen und Schreiben bei, es reichte, um durchzukommen. Wir haben überwiegend auf dem Hof gearbeitet. Meine Schwester war mein einziger Gefährte, mein einziger Freund. Und ich war es für sie.
Sie hat schwer gearbeitet – zu schwer. Nach der Umwälzung blieb uns nichts anderes übrig, damit wir etwas zu essen hatten. Unsere Eltern waren alt und krank. Im ersten Winter wären wir beinahe verhungert. Egal, was ihr über die Hungerzeiten gehört habt, ihr könnt es euch nicht vorstellen.« Seine Stimme erstarb, seine Augen verdunkelten sich. »Ausgehungerte Rudel wilder Bestien und herumirrende Haufen von Männern streiften durch das Land. Da wir abgeschieden lebten, hatten wir mehr Glück als manch andere. Aber viele Nächte blieben wir auf, Prügelstöcke in unseren Händen, wenn die Wölfe um das Haus schlichen und warteten ... Ich beobachtete meine Schwester, ein hübsches kleines Ding, wie sie alt wurde, bevor sie zwanzig Jahre alt war. Ihr Haar war so grau wie meines jetzt, ihr Gesicht verhärmt und runzlig.Aber sie hat sich nie beklagt.
In jenem Frühling wurde es nicht viel besser. Aber zumindest hatten wir Hoffnung, so sagte jedenfalls meine Schwester. Wir konnten Samen setzen und ihnen beim Wachsen zusehen. Wir konnten auf die Jagd gehen, da das Wild mit dem Frühling zurückgekehrt war. Es würde genug zu essen geben. Sie liebte die Jagd. Sie konnte gut mit Pfeil und Bogen umgehen, und sie war alles andere als ein Stubenhocker. Wir gingen oft gemeinsam weg. An jenem Tag . . .«
Berem stockte. Er schloß die Augen, schüttelte sich, als ob ihm eiskalt wäre. Dann biß er seine Zähne zusammen und fuhr fort.
»An jenem Tag gingen wir weiter als üblich. Ein durch ein Blitz entstandenes Feuer hatte das Unterholz weggebrannt, und wir stießen auf einen Pfad, den wir niemals zuvor gesehen
hatten. Wir hatten beim Jagen kein Glück gehabt und folgten dem Pfad, hofften, Wild zu finden. Aber nach einer Weile sah ich, daß es kein Tierpfad war. Es war ein uralter Pfad, von Menschen geschaffen; er war seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Ich wollte umkehren, aber meine Schwester wollte weitergehen, neugierig, wohin er uns führen würde.«
Berems Gesicht verkrampfte sich zunehmend. Einen Moment lang befürchtete Tanis, daß er mit seiner Geschichte aufhören würde, aber Berem fuhr wie im Fieber, wie angetrieben, fort.
»Er führte uns zu einem ... einem seltsamen Platz. Meine Schwester sagte, daß dort früher ein Tempel gestanden haben müßte, ein Tempel für die bösen Götter. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß dort zerbrochene Säulen herumlagen, überwuchert von Unkraut. Sie hatte recht. Dieser Platz hatte etwas Verruchtes,
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