Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
er zu Caramon sah, der seine Augen verdrehte und dann wegschaute. »Wir sollten hier lieber den Ausgang suchen.«
»Ich habe ihn gefunden.« Berem seufzte. »Ich war fast durch, als ich den Zwerg schreien hörte. Dieser Weg.« Er zeigte zu einem weiteren schmalen Spalt in den Felsen. Caramon seufzte, blickte trübselig auf seine Kratzer an den Armen. Wieder krochen die Gefährten einzeln durch die Öffnung.
Tanis ging als letzter. Er drehte sich um und warf noch einmal
einen Blick auf den verlassenen Ort. Die Dunkelheit brach schnell herein, der azurblaue Himmel färbte sich purpurn und dann schwarz. Die seltsamen Findlinge wurden in die zunehmende Finsternis eingehüllt. Das dunkle Steinbecken, in dem Fizban verschwunden war, konnte er längst nicht mehr erkennen.
Es war ein merkwürdiger Gedanke, daß Flint tot war. Er spürte in sich eine tiefe Leere. Er erwartete immer, die murrende Stimme des Zwerges zu hören, die sich über unzählige Schmerzen und Wehwehchen beklagte oder mit dem Kender stritt.
Einen Moment lang kämpfte Tanis mit sich, hielt seinen Freund fest, solange er konnte. Dann ließ er Flint los. Er drehte sich um, kroch durch den schmalen Spalt in den Felsen und verließ die Heimat der Götter, die er niemals wiedersehen sollte.
Als sie wieder draußen waren, folgten sie einem Pfad, bis sie auf eine kleine Höhle stießen. Hier kauerten sie sich zusammen, wagten kein Feuer anzuzünden, da sie sich in der Nähe von Neraka befanden, dem Machtzentrum der Drachenarmeen. Eine Zeitlang sprach keiner, dann begannen sie alle über Flint zu reden – ließen ihn los, wie Tanis es getan hatte. Es waren gute Erinnerungen an Flints reiches, abenteuerliches Leben.
Sie lachten herzlich, als Caramon die Geschichte des verheerenden Ausflugs erzählte – wie er ein Boot bei dem Versuch umgekippt hatte, einen Fisch mit den Händen zu fangen, und Flint dabei ins Wasser gefallen war. Tanis erinnerte sich, wie Tolpan und der Zwerg sich kennengelernt hatten, als Tolpan »zufällig« mit einem Armband weggegangen war, das Flint angefertigt hatte und auf einem Jahrmarkt verkaufen wollte. Tika erinnerte sich an die wundervollen Spielsachen, die er für sie gemacht hatte. Sie erinnerte sich an seine Herzensgüte, als ihr Vater verschwunden war, wie er das junge Mädchen in sein Haus aufgenommen hatte, bis Otik ihr einen Platz zum Leben und zum Arbeiten gegeben hatte.
All diese und noch mehr Erinnerungen erzählten sie sich, bis
zum Ende des Abends der bittere Stachel ihrer Trauer verschwunden war und nur noch der Schmerz des Verlustes zurückblieb.
Das heißt – für die meisten von ihnen.
Später, in den stillen Stunden der Nacht, saß Tolpan draußen am Höhleneingang und starrte in die Sterne. In seinen kleinen Händen hielt er Flints Helm, während Tränen über sein Gesicht liefen.
D ie Gefährten stellten fest, daß es einfach war, Neraka zu betreten.
Tödlich einfach.
»Was im Namen der Götter ist denn da los?« fragte Caramon, als er und Tanis, immer noch in ihren gestohlenen Drachenrüstungen, von ihrem verborgenen Aussichtspunkt im Gebirge westlich von Neraka aus auf die Ebene spähten.
Schwarze Linien schlängelten sich über die Ödnis auf das einzige Gebäude im Umkreis von vielen Meilen zu – den Tempel der Königin der Finsternis. Es sah aus, als ob Hunderte von Vipern
sich aus dem Gebirge wanden, aber es waren keine Vipern. Es waren mehrere tausend Drachensoldaten. Die zwei Männer sahen hier und dort in der Sonne Speere und Schilde aufblitzen. Blaue, rote und schwarze Flaggen mit den Wappen der Drachenfürsten flatterten an hohen Masten. Hoch über ihnen füllten Drachen den Himmel in entsetzlichen Regenbogenfarben – rot, blau, grün und schwarz. Zwei gigantische Fliegende Zitadellen schwebten über dem ummauerten Tempelareal; die Schatten, die sie warfen, ließen eine ewig währende Nacht entstehen.
»Weißt du«, sagte Caramon langsam, »es war gut, daß uns der alte Mann angegriffen hat. Wir wären massakriert worden, wenn wir auf unseren bronzenen Drachen in diesen Mob geritten wären.«
»Ja«, stimmte Tanis abwesend zu. Er hatte über den »alten Mann« nachgedacht, einige Dinge zusammengefügt, sich erinnert, was er selbst gesehen und was Tolpan ihm erzählt hatte. Je länger er über Fizban nachdachte, um so näher kam er der Wahrheit. Seine Haut »grauste«, wie Flint gesagt hätte.
Bei der Erinnerung an Flint fuhr ein kurzer Schmerz durch sein Herz, und er schob die
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