Die Chronik der Drachenlanze 5 + 6
und wir hätten umkehren sollen.Wir hätten diesen bösen Platz verlassen sollen ...« Berem wiederholte diesen Satz mehrere Male. Dann fiel er in Schweigen.
Niemand bewegte sich oder sprach, und nach einem Moment redete er so leise weiter, daß die anderen gezwungen waren, näherzurücken, um ihn zu verstehen. Und da wurde ihnen allmählich bewußt, daß er vergessen hatte, daß sie da waren oder wo er überhaupt war. Er war in jene Zeit zurückgekehrt.
»Aber in diesen Ruinen gibt es einen wunderschönen, wunderschönen Gegenstand: den Sockel einer umgestürzten Säule, mit Juwelen übersät!« Berems Stimme wurde vor Ehrfurcht leise. »Niemals habe ich solch eine Schönheit gesehen! Oder solch einen Reichtum! Wie kann ich das zurücklassen? Nur ein Juwel! Ein Juwel wird uns reich machen! Wir könnten in die Stadt ziehen! Meine Schwester wird Freier haben, so wie sie es verdient. Ich ... ich falle auf die Knie und hole mein Messer hervor. Da ist ein Juwel – ein grüner Juwel –, der so hell in der Sonne glänzt! So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen! Den will ich. Ich stoße die Messerklinge in den Stein unterhalb des Juwels und fange an, ihn herauszugraben.
Meine Schwester schreit mich an, aufzuhören.
›Dieser Ort ist heilig‹, bittet sie. ›Die Juwelen gehören einem Gott. Das ist Entweihung, Berem!‹«
Berem schüttelte den Kopf, sein Gesicht verdüsterte sich in der Erinnerung an die Wut.
»Ich ignoriere sie, obgleich ich eine Eiseskälte im Herzen spüre, als ich den Juwel herausschneide. Aber ich sage ihr: ›Wenn er den Göttern gehört, so haben sie ihn verlassen, so wie sie uns verlassen haben!‹ Aber sie hört nicht zu.«
Berems Augen flackerten auf, sie waren nun kalt und beängstigend anzusehen. Seine Stimme kam aus weiter Ferne.
»Sie packt mich! Ihre Fingernägel graben sich in meinen Arm. Es tut weh!
›Hör auf, Berem!‹ befiehlt sie mir – mir, ihrem älteren Bruder! ›Ich werde dich nicht entweihen lassen, was den Göttern gehört!‹
Wie kann sie es wagen, so mit mir zu reden? Ich tue es doch für sie! Für unsere Familie! Sie soll mir nicht in die Quere kommen! Sie weiß, was passieren kann, wenn ich rasend werde. Etwas bricht in meinem Kopf entzwei, durchflutet mein Gehirn. Ich kann weder denken noch sehen. Ich schreie sie an: ›Laß mich in Ruhe!‹ Aber ihre Hand greift nach meiner Hand, in der ich das Messer halte, so daß die Klinge verrutscht und den Juwel kratzt.«
Berems Augen blitzten in einem wahnsinnigen Licht auf. Caramon legte verstohlen seine Hand an seinen Dolch, als sich die Hände des Mannes zu Fäusten zusammenballten und seine Stimme zu einem fast hysterischen Ton anstieg.
»Ich ... ich schubse sie ... nicht grob .... ich wollte sie nicht grob schubsen! Sie fällt! Ich will sie auffangen, aber ich kann nicht. Ich bewege mich zu langsam, zu langsam. Ihr Kopf . . . prallt gegen die Säule, direkt in einen scharfgeschnittenen Stein«, Berem berührte seine Schläfe, »Blut bedeckt ihr Gesicht, breitet sich über die Juwelen aus. Sie glänzen nicht mehr. Ihre Augen glänzen auch nicht mehr. Sie starren mich an, können mich aber nicht sehen. Und dann . . . dann . . .«
Sein Körper bewegte sich zuckend.
»Es ist ein entsetzlicher Anblick, ich sehe es immer wieder, sobald ich meine Augen zum Schlafen schließe. Es ist wie bei der Umwälzung, nur da wurde alles zerstört! Dies ist eine Schöpfung, aber eine schauderhafte, verruchte Schöpfung! Der Boden spaltet sich! Riesige Säulen beginnen sich vor meinen Augen zu bilden. Ein Tempel steigt aus einer entsetzlichen Dunkelheit unterhalb des Bodens hervor. Aber es ist kein schöner Tempel – er ist schrecklich und verunstaltet. Vor mir erhebt sich Dunkelheit, eine Dunkelheit mit fünf Köpfen, alle verzerrt und verkrümmt. Die Köpfe sprechen zu mir mit einer Stimme, die kälter als das Grab ist.
›Vor langer Zeit wurde ich von dieser Welt verbannt, aber mir wurde gestattet, durch einen Teil der Welt wieder einzutreten. Diese mit Edelsteinen versehene Säule war für mich eine verschlossene Tür, die mich gefangen hielt. Du hast mich befreit, Sterblicher, und darum erfülle ich deinen Wunsch – der grüne Edelstein gehört dir!‹
Dann ertönt ein schreckliches, höhnisches Gelächter. Ich spüre einen starken Schmerz in meiner Brust. Als ich hinabsehe, ist der grüne Juwel in mein Fleisch eingebettet, so wie ihr ihn jetzt seht. Entsetzt über das fürchterliche Unheil, gelähmt durch
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