Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
zurück. Das einzige Heulen, das Wolf hören wollte, war eines, das er nie wieder hören würde.
Im Morgengrauen stieg Torak die steile Klippe hinab und erreichte schließlich, bald rutschend, bald fallend, das Flussufer.
Wolfs Spur führte über den Kiefernstamm ans gegenüberliegende Ufer, doch Torak schlug einen anderen Weg ein. Er ging zunächst flussabwärts und suchte dabei den Fuß der Klippe ab. Vielleicht – wer weiß – hatte Dunkelfell den Sturz überlebt, es irgendwie zurück ans Ufer geschafft und lag nun, verletzt, aber am Leben …
Doch der Schnee war unberührt, die Eisdecke am seichten Ufer geschlossen.
Torak lief zurück, balancierte auf der umgestürzten Kiefer zur anderen Seite des Pferdesprungflusses und suchte auch dort das Ufer ab. Vergebens. Nirgendwo ein Anzeichen von Dunkelfell.
Verschwunden, verschwunden, klang Wolfs einsames Heulen wie ein antwortendes Echo zurück.
Dann folgte Torak der Spur seines Rudelgefährten. Auf harschem Schnee hinterlassen die Pfoten eines Wolfes kaum Abdrücke – höchstens vielleicht hier und da einige lockere, von einem Zweig abgestreifte Schneeflocken oder einen kaum merklich verbogenen Farnwedel –, doch Torak folgte seinem Gefährten fast ohne nachdenken zu müssen. In südlicher Richtung über den Hang und ins nächste Tal hinein: eine tiefe Felsenschlucht.
Torak erkannte die schmale Rinne sofort wieder: Das Tal des Flinkwassers. Als er klein war, hatten Fa und er im Frühsommer hier oft ihr Lager aufgeschlagen und Lindenrinde gesammelt, aus deren Fasern sie Seile gedreht hatten.
Jetzt war das Flinkwasser zu Eis erstarrt, während vor drei Sommern ein reißender Fluss durch die Schlucht geschossen war. Auch den mächtigen roten Felsen, der wie ein schlafender Auerochse aussah, erkannte er augenblicklich. An dessen Fuß hatte er damals die ertrunkenen Wölfe im Schlamm gefunden. Und einen mageren, klatschnassen, zitternden Welpen.
Er überquerte den Fluss und kletterte den Hang hinauf.
Dann blieb er reglos stehen.
Jemand hatte einen Pfeil mit einer Schlingpflanze um den Stamm einer Birke gewickelt, ungefähr zehn Schritt über dem Auerochsenfelsen. Die Spitze zeigte nach Osten, zu den Hohen Bergen.
Mit angehaltenem Atem kletterte Torak näher heran. Er betrachtete die Pfeilfedern, wagte es aber nicht, ihn zu berühren. Dieser Pfeil hatte Fa gehört.
Als hätte sein Vater laut zu ihm gesprochen, vernahm Torak die vertraute Stimme in seinem Inneren: Hilf mir. Befreie meinen Geist.
Vielleicht hatte Fin-Kedinn recht, vielleicht benutzte Eostra Fas Pfeil für ihre eigenen Zwecke, aber Torak konnte den nächtlichen Ruf jenes verlorenen Geistes nicht vergessen. Nicht nur Eostra rief ihn in ihren Bau, sondern auch sein Vater.
Wenn er jedoch der Pfeilrichtung folgte und nach Osten ging, ließ er Wolf im Stich.
Torak blieb unentschlossen stehen und ballte die Hände in den Fäustlingen.
Was tun? Den Toten folgen? Oder den Lebenden?
Er wusste, wie Fin-Kedinn an seiner Stelle gehandelt hätte.
Torak wandte sich den verhüllten Bergen in der Ferne zu und hob eine Hand. »Du willst mich von meinem Rudelgefährten trennen«, rief er der Adlereulenschamanin zu. »Aber das wird dir nicht gelingen. Ich werde es nicht zulassen!«
Er kehrte dem Pfeil den Rücken zu und stapfte in Richtung Süden davon.
Um Wolf zu suchen.
Kapitel 7
Je weiter Fin-Kedinn nach Norden kam, desto kälter wurde es. In der Nacht zuvor hatte sich ein Ring um den Mond gelegt und die Sterne hatten noch heller gefunkelt als sonst. Ein Unwetter zog auf. Der Clan musste bereits ein Lager aufgeschlagen haben und auch Fin-Kedinn durfte die Suche nach einem geeigneten Lagerplatz nicht länger hinausschieben.
Er war über den Kollersteinbach oberhalb des Lagers des Eberclans und ins Tal des Rauschenden Wassers hinabgeklettert. Von dort war es nur noch ein Tagesmarsch bis zum Windfluss, wo die Raben während der Angriffe des Bärendämons ihr Lager aufgeschlagen hatten. Damals hatten Renn und ihr Bruder zwei Flüchtlinge ins Lager gebracht: ein Wolfsjunges, das in einem Ledersack zappelte und jaulte, und einen über und über vor Schmutz starrenden, zornigen Jungen …
Das Rauschende Wasser gurgelte lautstark zwischen den vereisten Ufern, doch im Wald herrschte eine eigentümliche, abwartende Stille. Erst jetzt fiel Fin-Kedinn auf, dass er den ganzen Tag über noch keinen Vogel gesehen hatte, wenn man von einigen einsamen Schwänen absah, Nachzügler, die in Richtung
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