Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
Kapuzenjacke dichter ums Gesicht zog, weil ein Unwetter nahte.
Damit nicht genug, hatte Renn in der Nacht Wolfs Heulen vernommen. Noch nie zuvor hatte sie ihn so heulen hören.
Der Pferdesprungfluss fror gerade zu, der Frost hatte ein Muster aus zartgrünen Spiralen in das seichte Ufer gemalt. An einer Einbuchtung war die Eisdecke zersprungen und etwas weiter davon entfernt hatte sie die unverkennbaren Spuren von Toraks Stiefeln entdeckt. Renn wurde nicht recht schlau daraus. Zuerst war er flussabwärts gelaufen, hatte dann aber kehrtgemacht. Warum nur?
Wenig später war sie gleichauf mit dem Ruheplatz der Wölfe am gegenüberliegenden Ufer und schaute angestrengt und mit gerecktem Hals hinüber. Als sie heulte, rührte sich nichts, kein Wolf spähte wachsam über den Klippenrand. Sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass die beiden Wölfe wahrscheinlich mit den Welpen auf einer Erkundungstour durch den Wald unterwegs waren. Ihr Unbehagen wuchs.
Als sie den Kieferstamm entdeckte, auf dem Torak den Fluss überquert hatte, schöpfte sie neuen Mut. Seine Spur war frischer als erwartet, und er war, wie gewohnt, weit ausgeschritten. Seinetwegen hatte Wolf also nicht geheult.
Sie folgte der Spur zur Schlucht des Flinkwassers. Diesen Teil des Waldes kannte sie nur aus Toraks Beschreibungen. Hier hatte er Wolf zum ersten Mal gesehen. Auf halber Höhe entdeckte sie am Hang einen Pfeil, der an einer Birke festgebunden war und nach Osten zeigte. Merkwürdig. Gewiss ein Zeichen, das Torak ihr hinterlassen hatte. Aber warum hatte er nicht einfach auf sie gewartet, wenn er wollte, dass sie ihm folgte?
Hastig und ohne genauer hinzusehen, eilte sie an dem Pfeil vorbei, fand jedoch zu ihrer Bestürzung keine Spuren mehr. Diesen Weg hatte Torak ganz sicher nicht eingeschlagen.
Sie lief zur Birke zurück und blieb abrupt stehen. Der Pfeil war mit einem Nachtschattengewächs befestigt – einer tödlichen Giftpflanze, die die Seelenesser und insbesondere Seshru, ihre Mutter, besonders geschätzt hatten. Nie und nimmer hätte Torak diese Pflanze benutzt. Das konnte kein Zeichen von ihm sein. Es war auch nicht sein Pfeil.
Ein plötzlicher Windstoß blies ihr die Kapuze zurück. Renn überlief ein Zittern. Über dem Fährtenlesen hatte sie nicht bemerkt, dass der Wind aufgefrischt hatte und der Himmel mit einem Mal bedrohlich düster aussah. Ein Unwetter braute sich zusammen. Sie musste so schnell wie möglich ein Lager aufschlagen.
Aber dann wurde Toraks Vorsprung noch größer.
Sie kämpfte gegen die aufsteigende Panik an und beschloss, alles in den Wind zu schreiben, was sie je gelernt hatte, und weiterzulaufen.
Während es immer ungestümer wehte, fand sie erneut Toraks Spuren und folgte ihnen bis ins nächste Tal. Unter einer mächtigen, wachsamen Stecheiche machte sie eine kurze Pause, um Atem zu schöpfen. Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, wurde immer beklemmender. Obwohl es noch früh am Nachmittag war, herrschte nächtliche Düsternis. Der Schnee hatte eine eigenartig grünliche Farbe angenommen. Den ganzen Tag über hatte sie kein einziges Lebewesen zu Gesicht bekommen.
Fin-Kedinn hätte schon längst dafür gesorgt, dass sie haltmachten. »Die erste Überlebensregel«, hatte er ihr einmal gesagt, »lautet: Warte niemals , bis es zu spät ist, einen Unterschlupf zu bauen.«
Diese Stelle gab einen guten Lagerplatz ab: ein ebenes Stück Boden neben der Stecheiche, wenngleich etwas weit vom Fluss entfernt.
Renn biss sich auf die Lippen. »Torak?«, rief sie. »Torak!«
Wütend warf sie ihre Ausrüstung ab. Warum um alles in Welt war er nur ohne sie aufgebrochen? Und warum hatte sie ihn nicht eingeholt?
Jetzt, da sie einen Augenblick innehielt, wurde ihr unversehens klar, wie wenig Zeit ihr noch blieb, um den Unterschlupf rechtzeitig vor dem Unwetter aufzubauen.
Los, komm schon, Renn. Du weißt doch im Schlaf, was du zu tun hast. Zuerst das Feuer. Weck es jetzt auf, hinterher, wenn du das Holz geschlagen hast, bist du zu müde. Um das Feuer baust du den Unterschlupf. In deinem Beutel ist genügend Zunder, warm und trocken unter deinem Wams; außerdem hast du sogar noch ein Stückchen Zunderpilz, das in einer zusammengerollten Rinde schwelt, und brauchst dich nicht mit dem Flammenstein abzumühen.
Das war auch gut so. Die Bäume ächzten, der Wind riss an ihrer Kleidung und schlug ihr die Zweige ins Gesicht. Er war böse, wollte, dass sie scheiterte.
Sie biss die Zähne zusammen, weckte das Feuer und
Weitere Kostenlose Bücher