Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
zog und zerrte die Axt aus dem Gürtel. Jetzt kam der Unterschlupf an die Reihe: Schösslinge biegen und mit Weidenruten zusammenbinden, oben ein Abzugsloch für den Rauch freilassen. Lang gestreckt und niedrig bauen, um den Sturm zu trotzen, die Kronen der jungen Bäume abschneiden, damit der Wind sich nicht in ihnen verfing und sie herausriss. Tut mir leid, Baumgeister, ihr müsst euch ein neues Zuhause suchen. Fichtenzweige in die Seitenwände flechten, die restlichen Zwischenräume mit Farn schließen. Zum Schluss möglichst viele Schösslinge über den Unterschlupf legen, die ihn fest an den Boden pressten.
Trotz der Kälte war sie bald schweißüberströmt. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Der Wind schüttelte die Zweige der Bäume immer wilder; die Stämme knarrten und stöhnten unheilvoll.
Gegen den Wind gestemmt, flocht sie rasch eine Tür aus Haselnuss- und Fichtenzweigen, krabbelte dann in den Unterschlupf und zog Feuerholz und Fichtenzweige zum Auspolstern herein. Drinnen wirbelte Qualm in dicken Schwaden über den Boden, als traute er sich nicht hinaus. Hustend schloss Renn die Tür. Das Abzugsloch saugte den Rauch auf der Stelle nach oben. Die Luft war wieder klar.
Sie hatte den Unterschlupf so gebaut, dass zwei Menschen hineinpassten, falls Torak auftauchte. Erst jetzt begriff sie, wie töricht diese Hoffnung war. Torak war längst weg.
»Wasser«, sagte sie laut, um sich selbst Mut zu machen. Der Fluss war zu weit entfernt, sie musste Schnee schmelzen. Eilig schlüpfte sie aus Kapuzenjacke und Wams. Aus dem Wams stellte sie einen provisorischen Wassersack her, indem sie die Schnüre an Halsausschnitt und Ärmeln eng zusammenzog. Dann schlüpfte sie wieder in ihre Jacke und kroch hinaus, in den heulenden Rachen des Sturms.
Der Wind schleuderte Zweige auf sie, pikte ihr mit eisigen Nadeln ins Gesicht. Eilig stopfte sie Schnee in das Wams und kroch in die Hütte zurück. Dort befestigte sie den Sack mit einer Ersatzsehne ihres Bogens am Dach und schob einen rasch angefertigten Behälter aus Birkenrinde darunter, der die Tropfen auffing.
Der Wind kreischte. Ein jäher Ruck erschütterte den Unterschlupf. Plötzlich durchstieß der Weltgeist die Wolken, riss sie auseinander und dichter Hagel hämmerte herab. Renn umklammerte ihre Knie und betete für Torak und Wolf.
Wieder erschütterte ein kräftiger Stoß den Unterschlupf.
Renn zuckte zusammen. Das war kein Ast gewesen.
Sie zog die Kapuze über den Kopf, öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte hinaus.
Ein Schwall Hagelkörner prasselte ihr ins Gesicht.
Aber das ist ja gar kein Hagel, dachte sie, das ist Regen – Regen, der alles in Eis verwandelt.
Vorsichtig blinzelnd drehte sie den Kopf und sah, wie der Eisregen auf Zweige, Äste und Bäume herabstürzte – und alles unter einer dicken Eisschicht gefangen nahm. Sträucher bogen sich unter der Last. Im Nu bildete sich eine Eiskruste auf ihrer Kleidung.
Sie tastete vorsichtig über den Boden. Was war da auf den Unterschlupf geprallt? Ihr Fäustling streifte etwas Festes, Klumpiges, das sich nicht wie ein Ast anfühlte. Sie drückte darauf.
Das Häufchen krächzte.
Reks Flügel waren zu Eis erstarrt, doch nachdem Renn dem Rabenweibchen im Unterschlupf die Flügel abgebürstet hatte, dauerte es nicht lange, bis der halb erfrorene Vogel warm wurde und Dampfwölkchen aus seinem Gefieder aufstiegen.
Zitternd vor Entsetzen kauerte Rek auf Renns Schoß und in den schwarzen Rabenaugen erahnte das Mädchen mehr als nur Angst vor dem Sturm. Woher war sie gekommen? Und wo steckte Torak?
Tosender Donner zerriss den Himmel. Der Wald brüllte, wie Renn ihn nie zuvor hatte brüllen hören. Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, dann ein gewaltiges Splittern.
Mit einem Mal vernahm sie deutlich eine Stimme. Sie horchte angestrengt. War das etwa … ? Konnte das womöglich Torak sein, der ihren Namen rief?
Es war Wahnsinn, sich noch einmal ins Freie zu wagen.
Andererseits – falls Torak in Not geraten sein sollte …
Sie nahm ein brennendes Aststück aus dem Feuer.
Die Wut des Sturms entlud sich direkt über ihr. Der Wald wurde angegriffen. Verzweifelt wedelten die Bäume mit den Ästen, um ihre eisige Last abzuschütteln. Zweige brachen. Eine Pinie zerbarst wie Kienholz. Die Äste der Stecheiche bogen sich so tief herab, dass sie den mächtigen Stamm zu spalten drohten.
» Torak !«, brüllte Renn. Der Eissturm riss ihr seinen Namen von den Lippen wie ein Blatt vom Baum.
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