Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
verschwunden war. Seine Hände waren kalt und schweißbedeckt.
Rasch schickte er das Feuer wieder in den Schlaf und packte seine Ausrüstung zusammen.
Kurz darauf entdeckte er die zerfleischten Reste eines Baummarders. Die Eule hatte ihn nicht gefressen, sondern zu ihrem Vergnügen getötet.
Er erspähte eine ihrer schwarz und gelbbraun gestreiften Schwanzfedern, die eine unreine und verdorben riechende Staubschicht bedeckte. Genau solch eine Feder hatte er an jenem Tag gefunden, als die Seelenesser Wolf entführt hatten.
In diesem Augenblick fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Die Eule war nach Westen geflogen.
Zu Wolfs Lagerplatz.
Zu den Welpen.
Kapitel 5
Dichte Brombeerbüsche versperrten den Zugang zum Lagerplatz.
Torak versuchte verzweifelt, sich mit dem Messer einen Weg zu bahnen, und zerrte mit bloßen Händen an den Ranken. Er konnte nicht sehen, was sich dahinter abspielte, er hörte nur die schrillen Rufe der Raben, das wütende Fauchen eines Wolfes. Dunkelfell verteidigte die Jungen allein. Wolf war noch unterwegs auf der Jagd.
Endlich hatte sich Torak durch das Gebüsch gekämpft und stolperte auf das Lager. Pebble kauerte am Rand der Klippe unter einem Wacholderbusch; Schatten lag als schlaffes Häufchen Fell bei der Esche. Rip und Rek gingen auf die Adlereule los, die gerade herabstoßen und den reglosen Welpen packen wollte. Er sah Dunkelfell zu Schatten hinüberflitzen.
Torak riss die Axt aus seinem Gürtel und eilte ihr zu Hilfe. Die Eule segelte mit angewinkelten Flügeln außer Reichweite. Ein nach Verwesung riechender Luftwirbel hüllte Torak ein, als sie abermals herabstieß. Torak riss schützend die Arme vors Gesicht. Zu spät. Schon hatte ihm die Eule einen wuchtigen Schlag auf die Stirn versetzt. Er ging in die Knie und sah, wie sie mit gierig vorgestreckten Krallen auf Pebbles Versteck unter dem Wacholderbusch zuflatterte.
Torak wischte sich das Blut aus den Augen, kam taumelnd auf die Beine und rannte los. Als er Pebble beinahe erreicht hatte, stürzte sich die verzweifelte Dunkelfell, die ihr Junges retten wollte, mit einem mächtigen Sprung auf die Angreiferin, doch die Eule wich ihr blitzschnell aus und die Kiefer der Wölfin schnappten ins Leere. Wie gelähmt vor Entsetzen sah Torak Dunkelfell am äußersten Klippenrand landen; wild scharrend suchte sie mit den Pfoten Halt, aber ihre Krallen glitten auf dem gefrorenen Boden ab. Dann rutschte sie über die Kante.
Torak sah sie tief unten ins Wasser fallen. Sie ging unter und tauchte paddelnd wieder auf. Die Strömung war zu stark. Kurz darauf war nichts mehr von ihr zu sehen.
Die Adlereule ging abermals mit vorgestreckten Klauen auf Pebbles Versteck nieder. Noch konnten die Raben sie allerdings in Schach halten. Brüllend und die Axt schwingend, eilte Torak Rip und Rek zu Hilfe und gewahrte dabei aus dem Augenwinkel den heranstürmenden Wolf, der sich mit einem Hechtsprung auf die Eule warf. Sie wich mit flatterndem Gefieder Axt, Fängen und Schnäbeln aus, ließ sich aber nicht vertreiben. Der erste Mord hatte ihre Mordlust noch angefacht.
Pebble hockte zitternd vor Entsetzen unter dem Busch. Wenn er sich nicht von der Stelle rührte, kam er vielleicht mit dem Leben davon, aber im Freien …
Torak bellte einen Befehl: Bleib dort. Doch in diesem Augenblick verließ den Kleinen der Mut. Er jagte aus seinem Versteck hervor und hetzte auf das Brombeergebüsch zu. Da hatte ihn die Eule auch schon mit den Krallen gepackt und stieg in die Höhe.
Torak ließ die Axt fallen und riss sich Köcher und Bogen von der Schulter, doch seine Finger waren schlüpfrig vom Blut und der Pfeil entglitt seinen Händen.
Mit mächtigen Flügelschlägen brachte sich die Eule in Sicherheit, der kleine Welpe hing schlaff in ihren Krallen. Höhnisch kreiste sie über ihnen, schlug einen großen, bedächtigen Bogen und flog dann nach Süden davon.
Rip und Rek nahmen mit heiserem Krächzen die Verfolgung auf.
Wolf verschwand mit einem Satz über den Klippenrand.
Schwankend vor Erschöpfung sah Torak, wie sein Rudelgefährte die Felsen hinunterschlidderte und dann am Ufer entlanglief. Er hielt in panischem Entsetzen die Nase in die Luft, um die Witterung seiner Gefährtin aufzunehmen. Als ihm das nicht gelang, setzte er mit einem gewaltigen Sprung über eine umgeknickte Kiefer, die den Fluss überspannte und war kurz darauf, bei dem aussichtslosen Versuch, sein Junges zu suchen, im Wald verschwunden.
Kapitel 6
Die Adlereule verhöhnte
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