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Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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drehten sich ihre Gedanken unablässig im Kreis. Wie sollte sie die grauen Motten aufhalten? Wie die Schattenkrankheit bekämpfen? Was, wenn Saeunn bereits zu alt und schwach war und alles ganz allein von ihr, Renn, abhing?
    In diese düsteren Überlegungen mischte sich die Sorge um Torak, die beständig an ihr nagte.
    Seit Tagen las sie in der Glut, und am vorangegangenen Abend hatte sie vor dem Schlafen einen Traumstaub unter ihre Matte gelegt: einen Eschenzweig, um den sie eine Locke von Toraks Haar gewickelt hatte. Sie wünschte, sie hätte es unterlassen. Alle Zeichen sagten dasselbe. Sie konnte nur inständig hoffen, dass sie sich getäuscht hatte.
    Gegen Nachmittag lichtete sich der Nebel. Renn machte unter einer Buche halt, um sich mit einem Lachsfladen zu stärken. Gerade als sie ihren Vorratsbeutel öffnete, spürte sie ein Brennen in der Zickzacktätowierung an ihren Handgelenken. Vorsichtig verschloss sie den Beutel und betrachtete den Baum aufmerksam.
    An einer Seite hatte jemand ein seltsames, spitz zulaufendes Zeichen in den Stamm geritzt. Es war ungefähr handbreit und nicht in die glatte silbrige Rinde geschnitzt – sondern regelrecht hineingehackt worden.
    Noch nie zuvor hatte Renn ein derartiges Zeichen gesehen. Es glich einem großen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln oder einem Berg.
    Die Markierung war so frisch, dass Baumblut aus der Wunde quoll. Wer das hier getan haben mochte, war von Hass und dem Drang erfüllt gewesen, Schmerzen zuzufügen.
    Mit gezücktem Messer ließ Renn den Blick durch den Wald wandern. Die Dämmerung setzte ein. Tiefe Schatten versammelten sich unter den Bäumen.
    Sie kannte nur ein Wesen, das anderen mit solcher Rücksichtslosigkeit zusetzte. Ein Tokoroth. Ein im Körper eines Kindes gefangener Dämon.
    Sie strich über die Narbe auf ihrem Handrücken. Dort hatte sie vor zwei Sommern ein Tokoroth gebissen. Sofort stieg die Erinnerung an schmutziges, struppiges Haar, scheußliche Zähne und Klauen in ihr auf. Schon meinte sie zu sehen, wie sich Äste leicht bewegten, glaubte ein keckerndes Lachen zu hören, mit dem sich das Wesen von Ast zu Ast schwang.
    Unsinn, schalt sie sich. Das bildest du dir nur ein.
    Dennoch lief sie mit langen Schritten eilig den Hang hinauf.
    Es ist nicht mehr weit. Ich muss nur noch über den Kamm, dann bin ich im Tal des Eschenflusses. Von da an geht es bergab bis zum Rabenlager.
    Es war spät am Abend und schon frostig kalt, als sie ihr Ziel erreichte. Die ums Langfeuer gescharten Mitglieder ihrer Sippe begrüßten sie mit verhaltenem Kopfnicken. Niemand fragte, warum sie Angst hatte. Die Angst war allgegenwärtig. Der Eberschamane hatte recht gehabt: Auch hier war alles noch schlimmer geworden.
    Zwei junge Jäger, Sialot und Poi, waren erkrankt; sie behaupteten, Dämonen in ihren Schatten zu sehen. Den ganzen Tag über hatten die beiden überall seltsame, spitz zulaufende Zeichen eingeritzt: auf den Boden, in das Holz, sogar in ihre eigene Haut. Fin-Kedinn hatte am Flussufer ein Opfer dargebracht. Torak war nicht mehr da. Er war am Morgen in die Hohen Berge aufgebrochen.
    Bei dieser Nachricht stieß Renn einen erstickten Schrei aus und stürzte zu ihrer Hütte.
    Drinnen las die Rabenschamanin in der Glut.
    »Warum hast du ihn nicht zurückgehalten?«, rief Renn.
    Saeunn sah nicht einmal auf. Sie war in ihren Umhang aus Elchleder gehüllt und fütterte das Feuer mit Erlenrinde. Sie beobachtete, wie sich die Stücke in den Flammen krümmten, und lauschte dem Zischen der Geister.
    »Der Berg der Geister«, raunte sie. »Ahh… jaa…«.
    Renn warf ihre Ausrüstung ab und trat dicht an die Glut. »Der Berg der Geister. Bedeuten das die Zeichen, die ich an dem Baum gesehen habe?«
    »Sie hat sich in den Bergen eingenistet. Sie giert nach der Macht über die Toten. O jaa … Danach hat es sie schon immer verlangt.«
    Renn dachte an Torak dort draußen im Wald. Er hatte nicht die geringste Ahnung, in welche Gefahr er sich begab. Schon fing sie an, ihren Vorratsbeutel mit Lachsfladen zu füllen.
    »Du willst also mitten in der Nacht aufbrechen?«, fragte Saeunn spöttisch. »Trotz Mottenplage, Schattenkrankheit und lauernden Tokoroths?«
    Renn hielt inne. »Dann eben bei Morgengrauen.«
    »Du darfst das Lager nicht verlassen. Du bist Schamanin. Du musst bleiben und deinem Clan beistehen.«
    »Das ist deine Aufgabe«, gab Renn zurück.
    »Ich bin alt«, entgegnete Saeunn. »Bald schon werde ich mich zum Sterben hinlegen.«
    Beunruhigt blickte

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