Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
Renn in die unerbittlichen Augen der Alten. Während ihrer kurzen Abwesenheit waren Saeunns Kräfte sichtlich geschwunden. Der fleckige Schädel der Alten sah zerbrechlich aus wie ein Bovist – als würde er bei der geringsten Berührung zu Staub zerfallen.
Ihr Verstand allerdings war so scharf wie eh und je. »Nach meinem Tod«, erklärte sie, »bist du die Schamanin der Raben.«
»Nein«, sagte Renn.
»Du hast keine Wahl.«
»Die Raben können sich einen Schamanen aus einem anderen Clan suchen. Das kommt durchaus vor.«
»Närrin!«, stieß Saeunn hervor. »Ich weiß genau, warum du dich vor deiner Pflicht drücken willst! Glaubst du wirklich, er würde bei den Raben bleiben, falls er seinen letzten Kampf lebend übersteht und die Seelenesserin besiegt? Er ist ein Wanderer! Das steckt ihm in den Knochen. Du wirst hierbleiben und er wird gehen. So wird es kommen.«
Noch nie hatte Renn die Schamanin so gehasst. Am liebsten hätte sie die Alte bei den knochigen Schultern gepackt und kräftig geschüttelt.
Saeunn, die genau wusste, was Renn dachte, lachte heiser auf. »Du hasst mich, weil ich die Wahrheit sage! Aber du weißt es selbst. Du hast die Zeichen gelesen.«
»Nein«, flüsterte Renn.
Saeunns Finger schlossen sich um ihr Handgelenk. »Erzähle Saeunn, was du gesehen hast.«
Die knochigen Klauen der Alten waren so leicht und kalt wie die eines Vogels, dennoch vermochte Renn ihre Hand nicht wegzuziehen. »Der … der Kristallwald wird zerbrechen«, sagte sie zögernd.
»Der Schatten kehrt zurück«, fügte Saeunn hinzu.
»Der weiße Hüter kreist durch die Sterne …«
»… aber er kann den Lauscher nicht retten.«
Renn schluckte schwer. »Der Lauscher liegt kalt in den Bergen.«
»Ahhh …«, raunte die Rabenschamanin. »Die Glut lügt niemals.«
»Diesmal schon!«, rief Renn. »Ich werde es beweisen.«
»Die Glut lügt niemals. Eostra wird ihn allein stellen. Ohne dich. Und ohne den Wolf.«
»Niemals!«, schrie Renn zornig. »Sie kann uns nicht trennen. Er wird bei diesem Kampf nicht allein sein.«
»O doch. Ich habe es in der Glut gesehen und in den Knochen, und sie sagen mir – aber das weißt du in deinem Herzen ebenso gut wie ich –, sie sagen mir, dass der Seelenwanderer sterben muss.«
Renn lag noch lange wach, ehe sie in einen traumlosen Schlaf fiel. Beim Erwachen stellte sie entsetzt fest, dass der Morgen bereits zur Hälfte verstrichen war.
In der Nacht hatte es zum ersten Mal geschneit. Als sie benommen und mit schweren Gliedern aus der Hütte trat, leuchtete das Weiß so grell, dass sie blinzeln musste. Im Lager herrschte rege Geschäftigkeit. Die Raben packten zusammen und bauten aus den Stämmen und Tierhäuten der Hütten Schlitten. Die Hunde sprangen aufgeregt umher und konnten es kaum erwarten, bis man ihnen die Zuggurte anlegte. Die Raben schlugen ihr Lager ab.
Renn begab sich auf die Suche nach Fin-Kedinn. Er war dabei, seine Hütte abzubauen. »Wohin gehen wir?«, fragte sie. »Und warum brechen wir ausgerechnet jetzt auf?«
»Nach Osten, zu den Hügeln. Dort versammeln sich alle Clans. In der Nähe des Großen Waldes sind sie sicherer.« Als er ihre Miene sah, hielt er inne. »Du willst Torak folgen.«
»Ja.« Zu ihrer Überraschung versuchte er nicht, es ihr auszureden, sondern setzte gleichmütig seine Arbeit fort. Sein Gesicht sah grau aus. Anscheinend hatte er nicht geschlafen.
»Warum brecht ihr das Lager ab?«, wiederholte sie.
»Das habe ich dir doch erklärt. In der Nähe des Großen Waldes sind sie sicherer.«
»Sie? Willst du denn nicht mit ihnen gehen?«
»Nein. Thull führt sie dorthin. Sobald sich die Clans versammelt haben, wird Saeunn ihm während meiner Abwesenheit mit Rat und Tat beiseitestehen.«
» Was?« Renn riss die Augen auf. »Aber – die Clans brauchen dich jetzt mehr denn je! Du kannst nicht einfach gehen!«
Fin-Kedinn sah sie durchdringend an. »Glaubst du wirklich, ich würde meine Leute freiwillig im Stich lassen? Ich zerbreche mir schon seit Tagen den Kopf deswegen. Inzwischen bin ich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.«
»Warum denn? Wohin gehst du?«
Er zögerte. »Ich muss jemanden finden. Er ist der Einzige, der Torak und damit uns allen helfen kann.«
»Wer ist das?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Renn.«
Sie zuckte zusammen. »Du kannst nicht oder du willst nicht?«
Darauf gab er ihr keine Antwort.
Renn drehte ihm mit einem wütenden Aufschrei den Rücken zu. Das ging alles viel zu
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