Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
wagten nur wenige, diesen Namen auszusprechen.
»So macht sie es doch«, fuhr der Anführer der Raben fort. »Sie stiehlt sich in die Gedanken und Träume und sät Furcht.«
»Ich weiß.«
»Bist du dir sicher? Weißt du wirklich, wie mächtig sie ist? Sie befiehlt über die Tokoroth. Sie besitzt den Feueropal. Alle Seelenesser haben sie gefürchtet. Und nun willst du sie ganz allein herausfordern.«
Torak schwieg. Der frühmorgendliche Dunst hatte sich zu dichtem Nebel zusammengezogen. Das Rabenlager erwachte allmählich zum Leben und gelegentlich tauchten Gestalten in den weißen Schwaden auf und verschwanden alsbald wieder darin wie Geister. Viele sahen bedrückt und furchtsam aus. Er fragte sich, ob Eostra ihnen den Nebel geschickt hatte.
Torak öffnete seinen Medizinbeutel und vergewisserte sich, dass die schwarze Wurzel darin lag, die er sich von Saeunn erbeten hatte, für den Fall, dass er seine Seele auf Wanderschaft schicken musste. Aber was nützte ihm das gegen eine so mächtige Gegnerin wie die Adlereulenschamanin?
»Mag sein, dass du recht hast«, räumte er ein. »Vielleicht ist alles, was ich gesehen habe, nur ein Trugbild, das sie mir geschickt hat. Fa hatte sich den Seelenessern für kurze Zeit angeschlossen, vielleicht hat ihr das Macht über seinen Geist verliehen. Trotzdem muss ich etwas dagegen unternehmen.«
»Noch nicht. Die Motten plagen uns erst seit ein paar Tagen. Nicht einmal Saeunn hat je etwas Derartiges gesehen. Ich habe mich mit Durrain vom Rotwildclan verständigt und auch sie ist meiner Meinung. Wir müssen alle Clans zusammenrufen. Andernfalls fallen wir, sobald wir uns von unserer Furcht übermannen lassen, in Eostras Hände.«
»Aber ich kann einfach nicht mehr länger warten!«, platzte Torak heraus. »Ich wollte schon so oft aufbrechen und immer hast du Nein gesagt! Du findest sie nie, hast du gesagt, die Berge sind hoch und weit, dort kannst du ein Leben lang erfolglos nach ihr suchen. Nun geht sie zum Angriff über. Wer weiß, welche Plagen sie uns als Nächstes schickt? Es ist mein Los, sie herauszufordern, Fin-Kedinn. Soll ich etwa abwarten, bis sie den gesamten Wald in ihrer Gewalt hat?«
»Was hast du denn vor? Einfach blindlings in den Wald laufen und auf dein Glück vertrauen?«
»Das wird nicht nötig sein. Sie will meine Macht. Wenn sie bereit ist, wird sie mich zu sich rufen und mir sagen, wo ich sie finde.«
»Wenn sie bereit ist, Torak! Denk doch einmal nach. Das kann nur eines bedeuten: Wenn du allein bist. Wenn es zu spät ist. Wenn dir keiner mehr helfen kann. Nein. Kommt nicht infrage. Ich lasse dich nicht gehen.«
Die beiden blickten einander wütend an. Fin-Kedinn war zwar breiter und stärker, aber Torak musste schon lange nicht mehr zu ihm aufsehen.
Er nahm den Medizinbeutel und schnürte ihn mit einem entschlossenen Ruck fest zu. »Wenn Renn zurückkommt, richte ihr aus, dass es mir leidtut. Es ist zu gefährlich für sie, mich zu begleiten. Zumindest darin dürftest du meiner Meinung sein«, fügte er ein wenig bitter hinzu. Seit Torak fünfzehn Sommer geworden war – und damit alt genug, um sich nach den Gesetzen des Clans eine Gefährtin zu suchen –, kam es ihm häufig vor, als wolle Fin-Kedinn ihn und Renn mit allen Mitteln voneinander fernhalten.
Auf den Stab gestützt, stapfte Fin-Kedinn davon, drehte sich aber nach wenigen Schritten unerwartet um. »Ich verstehe deinen dringenden Wunsch, mit den Toten Kontakt aufzunehmen. Glaub mir, ich weiß, wie dir zumute ist. Als deine Mutter starb … Trotzdem musst du diesem Wunsch widerstehen . Die Lebenden und die Toten dürfen nicht beieinander sein. Es bringt Verderben. Es treibt die Lebenden in den Wahnsinn.«
Er hatte so eindringlich gesprochen, dass Torak einen Augenblick ins Wanken geriet. Dann schulterte er Köcher und Bogen und packte seine Axt. »Er ist mein Vater«, entgegnete er.
» Dein Vater. Deine Bestimmung. Anscheinend hast du vergessen, dass es nicht allein dein Kampf ist. Es betrifft den gesamten Clan!«
»Genau deswegen muss ich gehen. Ich kann einfach nicht mehr länger herumsitzen und warten.«
Kurz darauf verließ Torak das Rabenlager. Der Nebel schlug ihm aufs Gemüt. Immerhin waren die grauen Motten verschwunden, und er spürte keine unmittelbare Bedrohung, als er den Weg nach Osten einschlug.
Gegen Mittag hob sich der Nebel und die Sonne kam hervor. Tauperlen funkelten auf dem goldbraunen Farn und den silbergrünen Bartflechten. Die letzten Weidenröschen
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