Die Chronik der dunklen Wälder - Seelenwächter: Band 6 (German Edition)
schnell. Zuerst Torak. Jetzt Fin-Kedinn.
Ihr Onkel legte ihr die Hände auf die Schulter und drehte sie sanft wieder um. Sie sah die Schneeflocken auf dem weißen Fell seiner Kapuzenjacke und die ersten grauen Strähnen in seinem dunkelroten Bart.
»Renn. Sieh mich an. Sieh mich an . Ich kann es dir nicht sagen. Ich habe bei meinen Seelen geschworen, niemandem je davon zu erzählen.«
Am Ufer des Pferdesprungflusses blühten Eisblumen, auf den Ästen der Bäume glitzerte Reif. Es war viel zu kalt für den Schwarzdornmond. Etwas stimmte nicht.
Renn überlegte: Torak war allein aufgebrochen, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Wahrscheinlich würde er auch Wolf davon abhalten – oder es zumindest versuchen –, ihn zu begleiten. Das konnte nur bedeuten, dass er zu Wolfs Lagerplatz aufgebrochen war, um sich zu verabschieden. Um schneller voranzukommen, überquerte sie den Pferdesprungfluss und ging am ebeneren südlichen Ufer flussaufwärts. Torak musste einen anderen Weg eingeschlagen haben, jedenfalls konnte sie keine Spuren von ihm entdecken.
Sie war zu besorgt, um ihm böse zu sein. Seit drei Wintern bedrückte ihn die Last seines Schicksals, das seit dem vergangenen Sommer noch bedrohlicher geworden war. Er sprach zwar nie darüber, aber manchmal, abends am Feuer oder wenn er mit den Welpen spielte, verdüsterte sich seine Miene mit einem Mal und verriet ihr, woran er dachte.
Wenn er nur nicht so felsenfest davon überzeugt wäre, dass er allein damit fertig werden musste!
Renn war spät aufgebrochen. Bald wurde es Zeit, sich einen Lagerplatz zu suchen, und sie war noch weit von ihrem Ziel entfernt. Sie knirschte vor Enttäuschung mit den Zähnen. Torak hatte einen Tag Vorsprung und er kam schnell voran.
Ein Tag Vorsprung konnte letztendlich alles entscheiden.
Kapitel 4
Torak hatte den Morgen damit vergeudet, nach einer Stelle zu suchen, an der er den Pferdesprungfluss überqueren konnte. Das Nordufer war immer steiler geworden, und am Ende war ihm nichts anderes übrig geblieben, als kehrtzumachen.
Er ärgerte sich maßlos über sich selbst. Schließlich war er in diesen Tälern aufgewachsen. Wie hatte er das alles nur so schnell vergessen können?
Außerdem sehnte er sich nach Wolf, obwohl er doch gerade erst Abschied genommen hatte. Sie waren zwar nicht zum ersten Mal voneinander getrennt, aber diesmal erfüllte Torak eine eigenartige, unheilvolle Ahnung. Er hoffte beinahe, Wolf würde ihn aufspüren und er würde den vertrauten grauen Schatten zwischen den Bäumen auf sich zulaufen sehen.
Der Wald war über Nacht ganz weiß geworden. Torak entdeckte die Spuren der Dachse, die Farn gesammelt hatten, um ihre Höhlen für den Winterschlaf auszupolstern; er sah die dunklen Stellen, wo Rentiere mit ihren Hufen den Schnee beiseitegescharrt hatten, um an die Flechten heranzukommen.
Das Zeichen am Stamm der Eibe stach ihm von Weitem ins Auge.
Er wusste zwar nicht genau, was es darstellte – einen Berggipfel, auf den ein großer Vogel herabstieß? –, er spürte aber sofort seine Bedeutung: Ich bin hier , sagte die Adlereulenschamanin. Ich warte.
Dann schnappte er empört nach Luft. Das Zeichen war durch die Rinde mitten ins lebendige Holz gehackt worden, als wollte Eostra den gesamten Wald herausfordern.
Ohne nachzudenken schüttete er ein wenig Erdblut aus dem Medizinhorn seiner Mutter in die Handfläche und verschloss die Wunde sorgsam. So. Dieses Medizinhorn war etwas Besonderes, denn es war aus dem Geweih des Weltgeistes gefertigt; vielleicht half das Erdblut der Eibe dabei, wieder gesund zu werden.
Außerdem gab er mit dieser Geste der Seelenesserin zu verstehen: Ich, Torak, habe das getan.
Als er weiterging, vernahm er Dunkelfells weit entferntes, fragendes Bellen. Wo bist du? Und noch weiter entfernt Wolfs Antwort: Hier! Ihre Stimmen klangen froh. Torak sagte sich, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Trotzdem vermisste er Wolf.
Wolf hatte das Hell hindurch geschlafen und machte sich auf zur Jagd, als das Dunkel kam. Als er davonging, brachte seine Gefährtin den Kleinen gerade bei, wie man den Hörnern der Auerochsen auswich. Sie hatte ein altes Horn gefunden und stieß damit unermüdlich um sich. Die Welpen taten den Rest, indem sie sich voller Begeisterung darauf stürzten und sich immer wieder tüchtige Nasenstüber einfingen.
Während Wolf durch den Wald trottete, stieg ihm der Geruch der Beute in die Nase, die sich an Nüssen und Pilzen dick und rund
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