Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
meine ich. Was muss ich tun?“
„ Nimm das Messer, das auf seinem Kenotaph liegt, schneide dich damit und verteil das Blut auf deinem Gesicht und deinen Armen. Je mehr, desto besser. “
Erich zögerte einen Augenblick, ging dann aber mit festen Schritten zum leeren Grab. Er wollte sich von mir nicht noch einmal umstimmen lassen. Das Messer lag am Kopfende und Erich nahm sich Zeit, das Antlitz von Chiludes zu betrachten, bevor er es zur Hand nahm. Dabei konnte ich die Gesichtszüge vergleichen. Es gab tatsächlich Ähnlichkeiten zwischen Erich und dem Kunstwerk aus Marmor, aber das musste noch nichts bedeuten. Viele Hürnin ähnelten sich auf die eine oder andere Weise.
Vorsichtig hob Erich das Messer an und betrachtet es von allen Seiten. Er sah größer aus als die, die er aus Hornhus kannte, aber das konnte auch täuschen.
Dann schloss er die Augen und zog die scharfe Kante des Obsidian über seinen Handballen.
Es war, als hätte jemand in einer stürmischen Nacht alle Fenster und Türen aufgerissen. Von ringsum flossen die Geister heran und erst als Chon seine Axt zog und ihnen mit im Saal widerhallender Stimme Einhalt gebot blieben sie stehen. Aber sie lauerten auf ihre Gelegenheit, hin und hergerissen zwischen Gier und Angst.
Was nutzte es, wenn wir Chon vertrauen konnten, er aber seinen Untertanen nicht vertrauen konnte? Wenn es überhaupt seine Untertanen waren und nicht einfach weitere Gefangene, die sich nach Chonled verirrt hatten.
Wie betäubt schaute Erich auf seine Hand und das Blut, das auf den Boden tropfte.
„ Verteile es! “, wisperte Chon heiser. Plötzlich war er ganz nah und hielt seinen Blick unverwandt auf meinen Herrn gerichtet. „ Streich es auf dein Gesicht und deine Arme. “
Erich tat was er sagte. Sein Gesicht und seine Arme färbten sich rot und die Schar der Toten zog um uns herum Kreise wie ein Wolfsrudel um ein verwundetes Reh.
„ Leg das Messer hin. Geh vom Grab weg und komm zu mir zum Thron. “
Als Erich die blutige Klinge zurück auf den Sarkophag legte und ein paar unsichere Schritte auf Chon zu ging, gab dieser den Toten einen Wink mit seiner Waffe.
Wie eine Flutwelle stürzten sie sich auf das Blut, das an der Schneide hing und auf den Boden getropft war und versuchten sich gegenseitig davon wegzustoßen. Sie hätten sich umgebracht um an das Blut heranzukommen, wenn sie gekonnt hätten.
Erich und Chon standen abseits des Getümmels. Alle Anspannung war von Chon abgefallen und er sah meinem Herrn mit einem zärtlichen Blick in die Augen. Mit wachsendem Unbehagen sah ich, dass sich nun auch die Wachen zu den Toten gesellten, die Erichs Blut vom Boden aufsaugten wie Schmetterlinge das Wasser aus einer Pfütze, und durch die Türen strömten weitere Tote herein. Ich erkannte ein paar der Männer und Frauen aus Erichs Dorf wieder. Und dann sah ich Amal. Wie die anderen Toten war sie zugleich fest und durchscheinend, aber anders als die anderen stürzte sie sich nicht auf das Blut. Wie verloren stand sie da und betrachtete Sirrs Körper, der reglos vor dem Thron saß. Erich bemerkte sie nicht. Er war von Chons Augen gefesselt wie das Kaninchen vom Blick der Schlange.
„ Hab keine Angst. “, sagte Chon verführerisch. „ Ich werde dir nichts tun. “
Vorsichtig streckte er seine Hand aus und berührte Erich damit sacht an der Wange. Mit einem Finger strich er durch das Blut darauf und verteilte es auch auf Erichs Lippen.
„ Komm näher. “ Chons Stimme ging im Kreischen der Toten hinter uns beinahe unter, ebenso Erichs überraschter Schrei, als Chon sein Gesicht zwischen seine Hände nahm und ihn auf den Mund küsste. Erich wollte den Mann von sich weg schieben, aber er fand keinen Halt und Chon hielt ihn mit seinen Händen fest wie ein Schraubstock. Nach ein paar Sekunden gab er es auf in die Luft vor sich zu schlagen und sich über das Gesicht zu wischen. Das Blut um seinen Mund floss zu Chons Mund und verschwand darin. Fasziniert sah ich zu, wie die beiden mit geschlossenen Augen beieinander standen und der Kuss sich erst nach einigen heftigen Atemzügen wieder auflöste.
Chon hatte Tränen in den Augen und war kaum in der Lage zu sprechen.
„ Geh … “, wisperte er. „ Nimm deine Freunde und geh. Meine Soldaten werden euch die Belagerer und die Hexe vom Leib halten. “
Erich öffnete den Mund um etwas zu sagen, kam aber nicht mehr dazu. Denn im gleichen Moment als Sirr und der Halken verwirrt die Augen aufschlugen, brüllte Chon vor Schmerz auf,
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