Die Chronik der Unsterblichen 13 - Der Machdi
raue Wand, an die ersieh presste. Das erste Fenster war kaum eine Armeslänge neben ihm, doch der Raum dahinter war leer. Als er lauschte, vernahm er nur das knisternde Prasseln einer Fackel, weder Atemzüge noch das Schlagen eines Herzens. Andrej dachte kurz darüber nach, den Fensterladen aufzubrechen, kam zu dem Schluss, dass er nicht hundertprozentig sicher sein konnte, es auch lautlos zu schaffen und tastete stattdessen prüfend mit beiden Händen über die Wand. Irgendwann einmal hatte sie aus sorgsam geglättetem, fugenlosem Stein bestanden, aber die Zeit hatte auch von ihr Tribut eingefordert. Es gab genug Risse, Löcher und Unebenheiten, an denen er sich in die Höhe ziehen und schon nach wenigen Augenblicken das flache Dach des einstöckigen Gebäudes erreichen konnte.
Er hatte Glück, auch wenn ihm erst im Nachhinein wirklich aufging, wie verwegen die Annahme gewesen war, diese Ruine könnte nach all der Zeit noch ein intaktes Dach haben. Doch die unbekannten Baumeister hatten solide gearbeitet. Das flache Sonnendach war nicht nur noch zur Gänze vorhanden, sondern auch stabil genug, sein Gewicht zu tragen. Andrej äugte zu der rechteckigen Öffnung im Dach, unter der die ersten Stufen einer ebenfalls aus Stein erbauten Treppe sichtbar waren, wandte sich dann aber in die entgegengesetzte Richtung, die, aus der die Stimmen und das Rascheln von Kleidung kamen. Geduckt huschte er über das Dach, legte das letzte Stück auf Händen und Knien zurück und lugte dann vorsichtig in die Tiefe.
Von hier oben aus betrachtet, sah es aus, als wäre das Gebäude vor langer Zeit einmal eine kleine Wüstenfestung gewesen oder eine zu groß geratene Karawanserei: Drei wuchtige Bauten bildeten zusammen mit den Resten einer verfallenen Mauer ein unregelmäßiges Quadrat. Obwohl die Gebäude verfallen und die Wehrmauer zum Großteil eingestürzt war, lag auf dem gepflasterten Hof unter ihm nicht ein einziges Trümmerstück, und auch die Fassaden waren nicht annähernd so verwittert wie auf der Außenseite, als hätte jemand sorgsam darauf geachtet, den Ansturm der Jahrhunderte zumindest nicht auf den ersten Blick Sichtbarwerden zu lassen.
Dann entdeckte er Murida … was erstaunlich genug war, denn sie war nicht allein in dem leicht asymmetrisch geschnittenen Innenhof, sondern von sechs Gestalten umgeben, die genau wie sie die schwarzen Abu-Dun Kostüme der Machdiji trugen. Dennoch erkannte er sie sofort und ohne ihr Gesicht sehen zu müssen.
Andrej verstand immer noch nicht, was dort unten gesprochen wurde, aber eine freundschaftliche Unterhaltung war es nicht, so viel wusste er. Murida gestikulierte heftig mit beiden Armen in Richtung eines bärtigen Mannes, der ihr zwar schweigend zuhörte, aber auch mit einer Miene, die sich mit jedem Wort ein bisschen mehr verdüsterte. Wenn das hier Muridas Verbündete waren, dachte er, dann empfingen sie sie offenbar nicht annähernd so herzlich, wie sie vielleicht gehofft hatte.
Als er die Schritte auf dem Dach hinter sich hörte, war es bereits zu spät, um zu reagieren. Es gelang ihm noch, in der Hocke herumzufahren und nach dem Schwert an seiner Seite zu greifen, doch dann berührte rasiermesserscharf geschliffener Stahl seine Kehle.
»Eigentlich schade«, sagte Hadschi. »Und ich hatte so gehofft, dass du mir den Gefallen tust.« Für die Dauereines einzigen Atemzuges war Andrej in Versuchung, dem Machdiji eine wirklich unangenehme Überraschung zu bereiten, aber ihm wurde auch sofort klar, wie dumm das gewesen wäre und ganz nebenbei auch gefährlich. Hadschi war nicht allein gekommen. Zwei weitere Männer in schwarzen Mänteln standen mit gezückten Säbeln hinter ihm, und noch einmal drei weitere kamen in diesem Moment so lautlos wie Schatten die Treppe herauf.
»Dein Schwert«, verlangte Hadschi. »Leg es auf den Boden, und dann steh auf! Ganz vorsichtig. Oder auch nicht, wenn du mir den Spaß gönnen willst.« Andrej gönnte ihm zumindest den Spaß, (vorerst) am Leben zu bleiben, indem er sehr behutsam den Saif zog und vor sich auf den Boden legte, bevor er langsam aufstand und die Arme ausstreckte, um zu demonstrieren, dass er waffenlos war. Hadschi ließ es sich trotzdem nicht nehmen, ihm ganz versehentlich einen tiefen Schnitt am Hals beizubringen, der nicht nur ekelhaft wehtat, sondern auch heftig blutete.
»Oh, das tut mir leid«, sagte Hadschi grinsend. »Das wollte ich nicht. Ich bin aber auch manchmal zu ungeschickt.« Andrej musterte die Gesichter der beiden
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