Die Chronik der Unsterblichen 13 - Der Machdi
begriff dann, dass das nicht geschehen würde, und rannte los, ohne auch nur noch einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er sich damit verraten könnte.
Der Boden hatte sie nicht wirklich verschluckt, aber der böse Streich, den ihm seine Fantasie gespielt hatte, kam der Wahrheit doch ziemlich nahe. Andrej lief vielleicht zwei-oder dreihundert schnelle Schritte, registrierte die Gefahr eher instinktiv, als dass er sie wirklich sah, und bremste gerade noch rechtzeitig genug ab, um einen letzten Schritt zu vermeiden, der fatale Folgen gehabt hätte: Wo mit Steinen übersäter Wüstenboden sein sollte, war mit einem Male nichts mehr. Unmittelbar vor ihm und so gerade wie vom Axthieb eines zornigen Gottes getroffen brach die Wüste einfach ab, um sich erst gute zwanzig oder dreißig Meter tiefer fortzusetzen.
Mit klopfendem Herzen ließ sich Andrej an der Kante auf die Knie sinken und beugte sich vor, so weit er es gerade noch wagte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Der Fels stürzte unter ihm lotrecht in die Tiefe, so glatt und fugenlos wie sorgsam poliertes Glas. Unter ihm lag etwas, etwas Dunkles und Unförmiges, das sich mühsam zu bewegen schien, und sein Herz zog sich zu einem schmerzhaften Krampf zusammen, bevor er erkannte, dass es nur ein Felsen war, der vor unendlich langer Zeit aus der Wand gebrochen war. Murida war nirgends zu sehen, weder tot noch verletzt oder auch lebendig.
Andrej schloss für eine Sekunde die Augen, schalt sich selbst in Gedanken einen Dummkopf, Narren und noch andere, weit unfreundlichere Dinge und zwang sein Herz, wieder langsamer zu schlagen. Der Versuch, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken, scheiterte kläglich.
Genau wie der, eine Antwort auf die Frage zu finden, wo sie eigentlich war. Der Erdfall erstreckte sich in beide Richtungen so weit, wie sein Blick reichte, und vermutlich auch noch ein gehöriges Stück darüber hinaus. Der Abgrund unter ihm maß mindestens zwanzig Meter, wenn nicht mehr. Jetzt, wieder zu halbwegs klarem Denken fähig und nicht mehr der Panik nahe, sah er, dass die Wand nicht annähernd so glatt war, wie er es sich im ersten Moment eingebildet hatte, sondern von Rissen, Spalten und Vorsprüngen übersät, die selbst einem mittelmäßigen Kletterer genug Halt geboten hätten, um sie zu überwinden. Aber sogar ein hervorragender Kletterer würde mindestens zehn Minuten brauchen, um nach unten zu kommen (Andrej war nicht sicher, ob selbst er das Hindernis in dieser Zeit überwinden könnte), und er hatte nur einen Bruchteil dieser Spanne gebraucht, um hierherzukommen. Wo also war sie? Um nicht doch noch die Balance zu verlieren und herauszufinden, wie lange sämtliche Knochen in einem menschlichen Körper brauchten, um sich wieder zusammenzusetzen, wenn er dort unten aufwachte, ließ sich Andrej auf den Bauch sinken und schob sich behutsam nach vorne, um die Felswand ein zweites Mal und sehr viel aufmerksamer abzusuchen.
Was er entdeckte, versetzte ihn in nicht geringes Erstaunen. Es gab einen Pfad. Er war gerade so breit wie zwei nebeneinandergelegte Hände und führte in halsbrecherischem Winkel an der Wand hinab, und – Zufall oder Absicht, wobei ihm Ersteres deutlich lieber gewesen wäre-er war dergestalt aus dem Stein gemeißelt, dass er nur für das Auge dessen sichtbar wurde, der wusste, wonach er suchte.
Die Entdeckung machte das Rätsel um Muridas Verschwinden nicht kleiner, denn diesen Pfad zu benutzen konnte kaum wesentlich schneller gehen und war vermutlich auch nicht viel ungefährlicher, als gleich an der Felswand hinunterzuklettern. Eigentlich hätte die Zeit für Murida nicht reichen dürfen. Aber ganz offensichtlich hatte sie es.
Andrej beschloss, sich später angemessen zu wundern, richtete sich wieder in die Hocke auf und suchte den Bereich jenseits der Steilwand mit Blicken ab. Das Mädchen entdeckte er immer noch nicht, wohl aber den Ursprung des roten Widerscheins, der ihn hierhergebracht hatte. Weit genug von der Felswand entfernt, um nicht von herunterstürzenden Steinen getroffen zu werden, aber nahe genug, sie als Rückendeckung zu nutzen, erhob sich eine Anzahl gedrungener Schatten, die auf den ersten Blick und vor allem in der Nacht durchaus selbst als Felsen durchgehen mochten. Doch die dünnen rot schimmernden Linien verrieten, dass sie von Menschen errichtete Gebäude waren, hinter deren vorgelegten Fensterläden Licht brannte, zu viele für ein einzelnes Haus, aber nicht genug für ein Dorf. Andrej
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