Die Chronik von Tornor 03 - Die Frau aus dem Norden
immer verriegelt«, sagte Kedéra und berührte die eiserne Riegelklammer, in die früher der Riegel geschoben worden war. »Ich hab' Sark gebeten, es wegzunehmen.« Sie stieß die Tür auf. Kalte Luft und weicher puderiger Schnee kamen hindurchgeweht. Sie stieß fester gegen die Tür, die zurückfiel. »Komm!« Sie stieg drei weitere Stufen hinan. Sorren folgte ihr. Schnee peitschte ihr ins Gesicht. Sie überlegte, was sie mit der Tür tun sollte ... »Laß sie nur!« sagte Kedéra.
Um ihre Gesichter wirbelte der Schnee. Sorren zog die Hände unter ihren Mantel. Mit gesenktem Kopf folgte sie Kedéra blind. Plötzlich legte sich der Wind, und sie blickte auf. Sie standen im Schatten eines Steinmassivs: die Innere Festungsmauer ragte vor ihnen auf.
Sie war höher als die äußere Wehr: massiv, düster und bedrückend. Sorren versuchte sich vorzustellen, daß sie sie erklimmen müsse, und es gelang ihr nicht. Kedéra trat aus dem Windschatten in eine neue Sturmbö hinaus. Sie befanden sich auf der Ostseite der Burg, der kalten Seite, zu der der Wind von der Steppe hereinblies ... Wieder blieb Kedéra stehen. Sie atmete heftig. Auch Sorren holte tief Luft, und die Kälte schnitt in ihre Lungen wie ein Messer. »Warum gehst du hierher?« fragte sie und bemühte sich, ihr Frösteln zu unterdrücken.
Kedéra antwortete ihr: »Damit ich sehen kann.« Sie lehnte sich an die Mauer, Eiskristalle glitzerten auf ihren Wangen – nein, sie weinte. Sorren legte ihr beide Hände auf die Schultern und spürte, daß auch das Mädchen vor Kälte zitterte.
»Es ist zu kalt, um hier oben zu bleiben«, sagte sie.
Kedéra nickte. »Gehn wir zur Treppe am Torhaus.« Ohne auf Sorrens Antwort zu warten, ging sie davon. Ihre Stiefel hallten auf dem steinernen Wehrgang wider. Sie bogen um die Ecke; der Wind griff sie nun von hinten an, zerrte und stieß an ihren Kleidern.
Kedéra blieb an einer der Scharten in der Mauer stehen. Sie spähten nach Süden, über das Feld unter der Burg hinaus. Es war weiß und unbefleckt, und nur die hölzerne Brücke und die dunkle unregelmäßige Spur des Flusses durchbrachen diese Reinheit. Während sie noch schauten, brach zwischen den Bäumen ein Maultier mit einem beladenen Schlitten hervor und holperte über das Feld. Sark hockte hinten auf der Ladung, Ryke saß auf dem Maultier, weit nach vorn gebeugt, das Gesicht dicht am Hals des Tieres. Sark rief etwas. »Sie haben es aber verdammt eilig«, sagte Kedéra verwundert. Noch während sie sprach, hieb Ryke mit einer Peitsche auf das Hinterteil des Maultiers ein. Das sich mühende Tier streckte den Hals vor und lief noch rascher.
Sie näherten sich der Brücke. Plötzlich galoppierte zwischen den Bäumen ein Reiter hervor – und ein zweiter – ein dritter.
»Was ...?« begann Sorren, doch sie sprach zu Kedéras Rücken. Kedéra rannte. Das Torwächterhaus ragte vor ihnen auf. Kedéra sprang hinein, und Sorren folgte ihr, so rasch sie konnte. Sie sah kurz ein großes Rad, auf dem ein Seil aufgewickelt war. Kedéra rutschte eine Leiter hinab, ihre Füße berührten dabei kaum die Sprossen. Sorren kletterte hinterdrein und holte sie in der Finsternis des Torbaus ein. »Was ist los?« fragte sie.
Kedéra stieß die Tür auf und raste in den Äußeren Hof. Keuchend stieß sie hervor: »Gesetzlose!«
Sorren griff nach ihr. »Wo laufen wir hin?« fragte sie. Kedéra schüttelte ihren Griff ab.
»Zum Stall! Dein Bogen!« Sie schoß auf den Stall zu. Lauf tauchte aus dem Nichts auf und raste ihr auf den Fersen hinterher. Sorren lief zu den Kemenaten hinüber. Die Schneeflocken wirbelten in unerbittlichem Treiben um sie herum zu Boden ... Sie hörte fernes Rufen, einen entsetzten Schrei, der aus der Erde selbst zu bersten schien – das Maultier, dachte sie. Sie rannte dröhnend die Stufen hinauf, an Merith vorbei. Meriths Augen waren weit aufgerissen, das breite Gesicht kalkweiß.
Sorren nahm je zwei der engen Stufen auf einmal. Im Hof hallte das dunkle wütende Gebell Laufs von den Mauern. Sie fiel fast in Kedéras Zimmer hinein. Da stand ihr Bogen an der Wand, die Sehne um ihn herumgewickelt. Sie packte ihn. Sie wirbelte im Kreis herum, das Herz hämmerte ihr bis zum Hals, sie suchte ihren Köcher. Hier lag er. Sie nahm ihn. Sie hatte noch zwei Pfeile. Sie dachte an Paxe, die ihr diese Pfeile gegeben hatte – und der Gedanke war wie ein Stoßgebet. Heiliger Wächter, ich will nicht töten, dachte sie, und noch während sie es dachte, rannte sie
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