Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
förderte eine kleine Pille zu Tage, die in den Saum des Gewands eingenäht war. Eine Apothekerin aus der Stadt, die man rasch herbeigeholt hatte, erklärte, es handle sich um Gift, wenn auch keines, das sie je zuvor gesehen hatte.
All dies erfuhren Jaryd, Alayna und die anderen erst am nächsten Morgen, einen ganzen Tag nach ihrer Rückkehr von Phelans Dorn. Der Kampf und Nialls Tod hatten die fünf sehr mitgenommen, und nachdem sie die Gefangenen übergeben und kurz berichtet hatten, was geschehen war, waren sie schlafen gegangen. Jaryd und Alayna nahmen zusammen ein Zimmer in einem Gasthaus nahe der Großen Halle, und da ihre Sehnsucht nacheinander noch größer war als ihre Müdigkeit, liebten sie einander im hellen Morgenlicht, das durch das Fenster hereinfiel. Zärtlich und liebevoll bewegten sie sich gemeinsam auf dem kleinen Bett, verzweifelt bemüht, sich nach einer Nacht des Tötens und der Trauer wieder lebendig zu fühlen. Danach schliefen sie tiefer, als sie es seit Wochen getan hatten, und hielten einander dabei immer noch eng umschlungen. Sie schliefen den ganzen Tag und standen gegen Abend auf, um etwas zu essen und schließlich Jaryds Ceryll an dem Stab zu befestigen, den Theron ihnen gegeben hatte. Dann kehrten sie in ihr kleines Zimmer zurück und schliefen den Rest der Nacht durch.
Am nächsten Morgen weckten sie die Glocken der Großen Halle. Als sie das Gebäude eine Weile später erreichten, waren bereits beinahe drei Viertel der Ordensmitglieder um den Tisch versammelt und sprachen über die Flucht und den darauffolgenden Selbstmord des Fremden. Jaryd hatte bald begriffen, was geschehen war.
»Wir sollten den anderen Gefangenen so bald wie möglich verhören«, erklärte Baden. Der Eulenmeister wirkte immer noch erschöpft, als hätte er in der Nacht zuvor nur schlecht geschlafen. Jaryd sah seinen Onkel immer wieder an, genauer gesagt seine leere Schulter und die leere gebogene
Sitzstange am Stuhl des Eulenmeisters, als könnte er sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass Anla tot war. Er konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, wie Baden zu Mute sein musste, und er tastete wiederholt im Geist nach Ishalla, als wollte er sich überzeugen, dass sie noch da war. »Er hat vielleicht kein Gift mehr zur Verfügung«, fuhr der Eulenmeister fort, »aber er findet vielleicht eine andere Möglichkeit, um sich etwas anzutun.«
»Oder er könnte versuchen zu fliehen«, fügte Trahn hinzu. »Ich bin der gleichen Ansicht wie Baden. Wir sollten sofort anfangen.«
Dieses Mal schienen die Magier, die rund um den Tisch saßen, ausnahmsweise alle der gleichen Ansicht zu sein. Oder doch zumindest die meisten. »Er ist ein gefährlicher Mann«, krächzte Odinan vom Kopfende des Ratstisches. Der alte Mann sah sogar noch müder und gebeugter aus als ein paar Tage zuvor. »Genau wie sein Kumpan. Ich denke, wir sollten warten, bis der gesamte Orden versammelt ist, bevor wir eine Entscheidung treffen.«
Auch das noch, dachte Jaryd und schüttelte ungläubig den Kopf. Er sah, wie Orris die Zähne zusammenbiss, aber überraschenderweise sagte der Falkenmagier nichts, sondern überließ es Baden, dem alten Mann zu widersprechen.
»Wir können es uns nicht leisten zu warten, Odinan«, erklärte Baden. »Wenn dieser Mann flieht oder sich umbringt, werden wir wieder genau an der gleichen Stelle sein wie zuvor. Wir brauchen die Informationen, die nur er uns liefern kann.«
»Mag sein, aber warum gerade jetzt?«
»Ich glaube, wir brauchen sie so schnell wie möglich.«
»Solche Übereile hat Niall das Leben gekostet!«, zeterte der alte Magier, und seine Wangen färbten sich rot. »Wenn du es so betrachten willst, gut!«, entgegnete Baden. »Sie hat mich auch meinen Vogel gekostet! Soll das nun heißen, dass wir gar nichts mehr tun?« Der Eulenmeister hielt inne und versuchte, sich zusammenzunehmen. »Wenn wir uns noch mehr Zeit lassen, Odinan«, fuhr er einen Augenblick später ein wenig freundlicher fort, »und dieser Mann flieht oder stirbt, dann werden Nialls Tod und der Tod meiner Anla bedeutungslos. Das willst du doch auch nicht, oder?«
»Selbstverständlich nicht!«, fauchte Odinan. Er sah sich im Saal um, feindselig und defensiv. »Du hast genug Stimmen auf deiner Seite, Baden, also schlage ich vor, dass du sie nutzt, um mich zu überstimmen. Ich werde nicht noch einmal nachgeben. Das habe ich getan, als ihr zu Therons Hain gehen wolltet, und Jessamyn und Peredur sind umgekommen. Ich habe es ein
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