Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
traten alle einen Schritt zurück, als Niall die Stäbe hob, damit die Menge sie sehen konnte. Orris hatte eigentlich Jubel erwartet, aber er hörte nur ein leises Murmeln und das Rauschen des Flusses. Zwei Wachtmeister führten die Pferde der Magier davon und versprachen, sich um die Tiere zu kümmern.
»Nun, Niall«, sagte Baden leise, als der Eulenmeister sich ihnen wieder zuwandte, »warum führst du uns nicht zur Großen Halle? Er erwartet uns sicher schon.« Der silberhaarige Magier setzte zu einer Antwort an, aber dann schloss er den Mund wieder, drehte sich ohne ein Wort um und begann, auf das großartige Kuppelgebäude zuzumarschieren, wo Sartol sie erwarten würde. Das Menschenmeer teilte sich friedlich für die Magier. Viele Männer und Frauen starrten die Angeklagten feindselig an, aber andere schienen weniger von ihrer Schuld überzeugt. Tatsächlich kümmerte sich Orris wenig um die Menge. Ihn interessierten mehr die Magier, die zugesehen hatten, als sich dieses kleine Drama auf der Brücke abspielte. Zu seiner Erleichterung waren die meisten von ihnen weitergegangen, so dass sie sich bereits im Versammlungssaal befinden würden, wenn Baden, Trahn und er eintrafen, um die Anklage zu hören. Er wusste, am Ende würde er sich ihnen stellen müssen. Aber im Augenblick fühlte er sich dazu noch nicht in der Lage.
»So ungefähr hatte ich mir das vorgestellt«, bemerkte Baden unterwegs. »Sartol vertraut zwar auf seinen Sieg, aber er legt es immer noch darauf an, die öffentliche Meinung gegen uns aufzubringen. Er muss gewisse Zweifel hegen.«
»Still!«, befahl einer der Diener.
Baden blieb stehen und starrte ihn wütend an. »Wir sind freie Männer, und man hat uns noch keines Verbrechens für schuldig befunden, mein Freund«, sagte er leise und drohend. »Du würdest gut daran tun, das nicht zu vergessen.« Er ging einen Schritt auf den großen, kräftigen Mann zu, neben dem er selbst wie ein Schuljunge aussah. »Du solltest auch nicht vergessen, dass ich und mein Vogel selbst ohne den Stab in der Lage sind, dich mit einem Fingerschnippen in eine Fackel zu verwandeln.«
Der Mann wich ein wenig zurück und nickte. »Jawohl, Eulenmeister«, stotterte er. »Es tut mir Leid.«
Einen Augenblick später drehte sich Baden wieder um und ging weiter. »Ist euch aufgefallen«, fragte er beiläufig, »dass diese Diener immer größer werden?«
Orris und Trahn fingen an zu lachen, was ihnen einen mürrischen Blick des betroffenen Mannes und einen missbilligenden von Niall einbrachte.
Kurz darauf erreichten sie die Große Halle und wurden sofort die breiten Marmorstufen hinauf und durch das Tor geführt. Selbst unter diesen Umständen war Orris bewegt vom Anblick der Halle, als er und die anderen auf der Hauptstraße darauf zugingen, und die Empfindung wurde noch stärker, als sie unter dem Holzbogen des Eingangs standen. Wie immer erinnerten ihn die glitzernde Kristallstatue des Ersten Magiers mit seinem Falken, das riesige, blau gekachelte Dach mit seiner Konstellation goldener Medaillons - darunter auch irgendwo auf der andern Seite sein eigenes, seines und das von Pordath - und die kunstvollen Einlegearbeiten auf den massiven Eichentoren an seine erste Reise nach Amarid und das erste Mal, als er diesen Versammlungsort von Falkenmagiern und Eulenmeistern gesehen hatte.
Orris' Erinnerung an diesen ersten Besuch in der großen Stadt und ihrer wundervollen Halle wurde noch deutlicher, als er Niall in den Versammlungssaal folgte und nach oben schaute, wie er es immer tat, wenn er das Gebäude betrat, um sich das Porträt von Amarid im Augenblick seiner Bindung an Parne anzusehen. Einen Augenblick später allerdings bedeute Niall den angeklagten Magiern mit einer Geste stehen zu bleiben, und Orris schob widerstrebend seine Erinnerungen beiseite und konzentrierte sich auf die Gegenwart. Die meisten Magier waren noch nicht von ihren Patrouillen zurückgekehrt; beinahe zwei Drittel der Stühle rund um den ovalen Tisch waren noch leer. Die meisten der Anwesenden waren Eulenmeister, die mit Odinan und Niall in Amarid geblieben waren; es gab nur eine Hand voll Falkenmagier in diesem Saal. Auch das hatte Baden erwartet, obwohl es ihn erheblich weniger beunruhigt hatte als Orris. Als einer der jüngeren Magier und einer, der mehr als willens gewesen war, die Konventionen des Ordens herauszufordern, fürchtete Orris, dass einige der älteren Meister sehr erfreut sein würden, ihn als Verräter verurteilen zu können. Es
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