Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
Eulenmeister tief Luft geholt und die Augen ein wenig weiter aufgerissen hatte. Es war so kurz gewesen, nur ein Sekundenbruchteil. Aber Badens Reaktion sagte ihm, dass er sich nicht getäuscht hatte, dass er tatsächlich gesehen hatte, wie sich das gelbe Glühen in Sartols Ceryll einen winzigen Moment in dem riesigen Kristall des Rufsteins wiederholt hatte.
Rasch sah sich Orris die Gesichter der anderen Magier im Saal an, um festzustellen, ob es ihnen ebenfalls aufgefallen war. Die meisten allerdings hatten sich dem Tisch zugewandt und nicht dem Stein und dem Eulenmeister. Die meisten. Aber nicht alle.
Orris kannte Radomil nun seit beinahe neun Jahren, seit jener Versammlung, bei der er seinen Umhang erhalten hatte. Er fand den älteren Falkenmagier liebenswert und stets höflich, aber im Grunde eher unbedeutend. Radomil sagte im Allgemeinen bei Versammlungen wenig, und es schien in seinem Verhalten bei wichtigen Abstimmungen kein deutliches Muster zu geben. Und er war nach seiner dritten Bindung immer noch ein Falkenmagier. Orris hatte sich häufig selbst versichert - und nun musste er bei der Erinnerung an so viel jugendliche Arroganz lächeln -, dass ihm so etwas nie passieren würde.
Aber wie so vieles andere, hatte sich auch Orris Wahrnehmung des kahlköpfigen, bärtigen Falkenmagiers verändert, zum Teil als Folge von Pordaths Tod. Im Augenblick hätte sich Orris über jeden Vogel gefreut - Falke oder Eule -, und er wusste, dass er nie wieder die Bindung eines anderen Magiers gering schätzen würde. Aber was wichtiger war: Radomil hatte viel mehr Mut und Kraft bewiesen, als Orris ihm je zugetraut hätte. Er hatte das vor kurzem an der alten Brücke mit einer unauffälligen Geste demonstriert, mit einem Angebot der Loyalität, für das Orris ihm zutiefst dankbar war. Und als er nun nahe der Mitte des Tisches saß, neben der leeren Stelle, an der sich Badens Stuhl hätte befinden sollen, starte Radomil Orris intensiv an, mit einem wissenden und erwartungsvollen Blick. Er hatte eindeutig die Reaktion des Rufsteins auf Sartols Ceryll bemerkt, und ihm war auch aufgefallen, dass Orris es wahrgenommen hatte. Vorsichtig und beinahe unmerklich nickte Orris dem Falkenmagier zu und bestätigte, was Radomil offenbar schon gewusst hatte. Sie waren Verbündete im Kampf gegen Sartol.
Odinan schloss seine Liste der Anklagen gegen sie ab, und Niall, der in der Nähe ihrer Stühle stehen geblieben war, bedeutete den drei Magiern, sich hinzusetzen.
»Ihr habt die Anklagen gehört«, erklang nun Sartols Stimme vom Platz des Eulenweisen, wohlklingend und verunsichernd ruhig. »Wie möchtet ihr selbst weiter vorgehen?« »Dürfen wir uns einen Augenblick miteinander besprechen?«, fragte Baden höflich.
Sartol nickte. »Ihr dürft.«
Orris und Trahn beugten sich dichter zu Baden, der zwischen ihnen saß. Sie wussten genau, dass selbst ihr Flüstern in dieser relativ leeren Halle widerhallen würde, aber dagegen konnten sie kaum etwas tun. »Du hast es auch gesehen?«, fragte Orris leise, sah Baden dabei an und hoffte, dass die Frage den anderen Magiern nichts weiter verraten würde.
»Ja.«
»Damit steht unsere Entscheidung ja wohl fest.« »Ich bin ganz deiner Meinung«, erklärte Baden mit einem bedauernden Grinsen. »Es sieht allerdings so aus, als müsstest du noch die Eulenmeister überzeugen.« Orris zuckte die Achseln und lächelte ebenfalls. »Das könnte sein.«
»Ich habe gar nichts gesehen«, warf Trahn ein, »aber ich nehme wohl an, dass wir uns für eine sofortige Verhandlung aussprechen?« Der dunkelhäutige Magier stellte diese Frage nicht, um die Entscheidung der anderen anzuzweifeln - er wollte sich nur seine Vermutung noch einmal bestätigen lassen. Solches Vertrauen angesichts einer so ungeheuer wichtigen Angelegenheit rührte Orris und bewirkte, dass er unendlich dankbar für die Freundschaft des Falkenmagiers war. Er bemerkte Spuren der gleichen Empfindung in Badens Miene.
»Das sollten wir wohl«, entgegnete der Eulenmeister. »Ich werde es später erklären. Aber wenn es dir lieber wäre -«
Trahn schnitt Baden mit einem Kopfschütteln das Wort ab. »Warten war nie meine Stärke«, sagte er. »Reißen wir dem Verräter die Maske vom Gesicht und bringen wir es hinter uns.«
Baden gestattete sich ein weiteres Lächeln und legte seinem Freund kurz die Hand auf die Schulter. Dann wandte er sich wieder an Sartol. »Wie es nach den Regeln dieses Ordens unser Recht ist«, verkündete er mit lauter
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