Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
das war alles. Langsam zehrte es sie auf, Stück um Stück: ihre Freude, ihre Schönheit, ihre Lebendigkeit und am Ende - und das war wie eine Gnade - ihr Leben. Das war jetzt zehn Jahre her. Ein Jahrzehnt.
Er war während ihrer Krankheit weiterhin zu den Versammlungen gegangen, und er hatte sich um die Bedürfnisse der Menschen, denen er diente, gekümmert. Darauf hatte sie bestanden. Aber nachdem er sie verloren hatte, waren sein Ehrgeiz und die Träume, die sie in ihm genährt hatte, verschwunden. Er hatte sich in die Bedürfnisse der Menschen versenkt und in dem Einzigen, was ihm noch geblieben war, Zuflucht vor seinem Schmerz gesucht. Aber seine Leidenschaft war mit Vardis gestorben. Er war zum Zuschauer geworden und hatte nur noch zugesehen, wenn seine Mitmagier aufstiegen und daran arbeiteten, die Zukunft des Ordens zu gestalten, aber er selbst hatte sehr wenig dazu beigetragen. Selbst seine Verbindung mit Nollstra war schwächer geworden.
Es war so anders als alles, was er zuvor gewesen war, und dennoch fühlte es sich so natürlich an, so verlockend bequem. Als jüngerer Mann, neu an seinen ersten Falken gebunden, hatte er seinen Vater, der selbst ein mächtiger Eulenmeister gewesen war, ungeduldig und ein wenig verächtlich alt werden sehen. Er hatte sowohl Vardis als auch sich selbst geschworen, dass er selbst niemals so dahinwelken würde, wie er es bei Padwyn gesehen hatte; er würde sich niemals damit zufrieden geben, einfach nur Routine walten zu lassen. Der Orden war zu wichtig für das Land, um solche Gleichgültigkeit dulden zu dürfen. Und als sein Vater schließlich gestorben war, hatte Niall sich geweigert, eine Rede auf ihn zu halten. Später, viel zu spät, hatte er diese Entscheidung bereut, und nun verstand er, dass das Dahinschwinden der Lebenskraft seines Vaters mit dem Tod seiner Mutter begonnen hatte. Erst die Tiefe seiner eigenen Trauer hatte ihm das begreiflich gemacht. Niall hatte schließlich nach ein paar Jahren seine Depression wieder abgestreift und sich aktiver an den Entscheidungen des Ordens beteiligt. Inzwischen allerdings hatten sich andere einen Namen gemacht und waren Anführer der diversen Gruppierungen, die miteinander um die Führung in der Großen Halle wetteiferten. Niall begriff, dass er nicht über den Einfluss dieser Leute verfügte, und er wusste, dass er nie Eulenweiser werden würde. Als Feargus starb, wurde sein Name nicht einmal auf der Liste der möglichen Nachfolger erwähnt. Anders als die meisten anderen Eulenmeister hatte Niall für Sartol und nicht für Jessamyn gestimmt, obwohl Sartol das selbstverständlich nicht wissen konnte. Das alles trug zu der Überraschung - und, wie Niall zugeben musste, Dankbarkeit - bei, die er vor zwei Tagen empfunden hatte, als sich Sartol, der einen Tag zuvor mit den schockierenden Nachrichten von dem Mord an Jessamyn und der Verschwörung innerhalb des Ordens zurückgekehrt war, ihm anvertraute und ihn um seine Hilfe beim Kampf gegen die Abtrünnigen bat.
Trotz früherer Streitigkeiten mit Sartol und trotz des Wissens um die Fehler, die der Eulenmeister während seines ersten Jahres als Magier gemacht hatte, hatte Niall Sartol immer gemocht und geachtet. Niall hielt ihn für weise und mutig; er bewunderte die Standhaftigkeit, die Sartol gezeigt hatte, als er weiterhin den Menschen im Norden Tobyn-Sers diente, nachdem er dafür bestraft worden war, dass er sich seine Dienste hatte bezahlen lassen. Und Sartol war nach Vardis' Tod freundlich zu ihm gewesen, hatte ihn ermutigt, als er aus dem tiefen Trübsinn, der ihn in den folgenden Jahren umfangen hatte, aufgetaucht war. Wie die meisten anderen Eulenmeister, mit denen er gesprochen hatte, hatte Niall schon lange erwartet, dass Sartol Jessamyn als Oberhaupt des Ordens nachfolgen würde. Als Überbringer von Jessamyns Stab schien er Niall die logischste Wahl, um bis zur endgültigen Entscheidung als vorläufiger Eulenweiser zu dienen. Als er von Sartol von Badens Verrat in Wasserbogen hörte und davon, dass Orris den abtrünnigen Eulenmeister aus dem Gefängnis befreit hatte, war Niall nur noch überzeugter gewesen. Die anderen Meister hatten ebenfalls zugestimmt und sich für Sartol als vorübergehendes Oberhaupt ausgesprochen, und das schon am Abend seiner Rückkehr nach Amarid. Später am nächsten Tag hatte Sartol Niall gebeten, ihn in den Gemächern des Weisen aufzusuchen. Der Orden befand sich in einer Krise, hatte Sartol gesagt, und brauchte einen vernünftigen,
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