Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
erfahrenen, aber immer noch starken und durchsetzungsfähigen Mann, der handeln konnte, wenn der Zeitpunkt gekommen war.
»Verschwörungen wie diese sind eine gefährliche Sache«, hatte der Eulenmeister gesagt, als sie einander im tiefen Gold der Spätnachmittagssonne, die in das Quartier des Weisen fiel, gegenübergesessen hatten. »Sie können bewirken, dass einige vor Angst vollkommen handlungsunfähig werden, während andere überall Verrat wittern. Ich brauche jemanden, der vorsichtig sein kann, ohne in Panik zu geraten, jemanden, der die Fassung bewahrt, ohne dabei übertrieben fügsam zu sein, und«, hatte er hinzugefügt, »ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann, jemanden, der über Kleinlichkeiten und Gier erhaben ist.« Der dunkelhaarige Eulenmeister hatte sich erhoben, war zur Feuerstelle gegangen und hatte dort zerstreut mit einem kleinen Gegenstand gespielt, den er auf dem Sims gefunden hatte. »In dieser Halle gibt es zu viel Ehrgeiz, Niall. Das wissen wir beide. Wenn ich mich in diesem Saal am Tisch umsehe, erblicke ich Ehrgeiz oder Trägheit, aber kaum etwas dazwischen. Ich vertraue Odinan und einigen anderen, aber ich glaube nicht, dass sie wirklich die Energie und die nötige Willenskraft haben, den Feinden des Ordens wirkungsvoll entgegenzutreten. Ich brauche jemanden, der eine einzigartige Mischung von guten Eigenschaften besitzt - Ehrgefühl, Haltung, Lebenskraft, Reife, Stärke. Kurz gesagt, Niall«, hatte er geschlossen, so unglaublich es scheinen mochte, »ich brauche dich.«
Diese Worte hatten Niall rasch auf die Beine gebracht, aber dann hatte er nichts weiter sagen können als einfach nur: »Ich werde dir treu zur Seite stehen, Sartol.«
Nun hatte sich der Eulenmeister umgedreht, ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. Er war zu Niall gegangen und hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt. Als er ihn kurze Zeit später zur Tür brachte, hatte er ihm mitgeteilt, dass er am nächsten Morgen wieder mit ihm sprechen würde und ihm dann in allen Einzelheiten anvertrauen wolle, was zu tun war.
Als er nach dieser Begegnung über den Marmorboden des Versammlungssaals gegangen war, hatte Niall unwillkürlich lächeln müssen. Er wusste, der Orden war in Gefahr, das ganze Land war in Gefahr. Aber er lächelte trotzdem. Er hatte sich nicht nur geschmeichelt gefühlt, nicht nur wichtig auf eine Weise, wie er es seit Jahren nicht mehr empfunden hatte, obwohl Spuren davon zweifellos vorhanden waren. Aber über all seine Aufregung und seinen Stolz hinweg hatte er vor allem Entschlossenheit verspürt, hatte gewusst, dass er wieder ein Ziel hatte, und das erweckte eine Leidenschaft in ihm, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie noch besaß. Nie hatte er einen anderen Menschen oder etwas anderes so sehr geliebt wie Vardis. Aber direkt nach ihr kamen der Orden und die Magie. Vardis hatte er lange schon verloren, und er konnte sie nicht zurückholen. Aber diese anderen Dinge waren immer noch ein Teil seines Lebens. Bedroht, gefährdet, aber immer noch ein Teil. Und sie brauchten ihn.
Am nächsten Morgen hatte er erfahren, worum es ging. Er war schon bald zu Sartol gerufen worden. Ein blau gekleideter Diener der Großen Halle, ein großer, kräftiger Mann, den Niall nie zuvor gesehen hatte, klopfte an seine Tür und informierte ihn darüber, dass Sartol so bald wie möglich mit ihm sprechen wollte. Niall hatte sich rasch angekleidet und war nur noch so lange im Gasthaus geblieben, wie er brauchte, um ein Stück süßes Brot und eine Tasse Shan-Tee zu sich zu nehmen. Dann war er durch die schmalen Gassen von Amarid geeilt, bis er die Halle erreichte. Sartol war im Zimmer des Weisen nervös vor der Feuerstelle auf und ab gegangen. Der Eulenmeister wirkte müde, als hätte er die ganze vergangene Nacht kein Auge zugetan.
Beim Klang von Nialls Klopfen hatte er sich umgedreht und kurz gelächelt. »Niall! Bitte, komm herein«, hatte er seinen älteren Kollegen begrüßt und ihn freundlich hereingewinkt. »Ich weiß es zu schätzen, dass du so bald gekommen bist.« Er zeigte auf einen Sessel und bat Niall, sich hinzusetzen. Dann ging er weiter auf und ab, deutlich von Sorge gezeichnet. »Ich erwarte, dass Baden und Orris heute Abend oder spätestens morgen eintreffen werden. Und es gibt etwas, das du für mich tun könntest, wenn sie herkommen.« In seinem Tonfall war nichts Schmeichelndes mehr wie am Abend zuvor; kein Versuch, den älteren Eulenmeister für sich einzunehmen. Nur die harsche
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