Die Chroniken von Amarid 02 - Der Kristall der Macht
wir denn überhaupt von einem von ihnen erwarten, dass er uns hilft?«
Noch bevor Baden antworten konnte, hörten sie alle ein leises Klopfen an der Tür.
Der Eulenmeister stand grinsend vom Bett auf und ging zur Tür. »Ich glaube,« sagte er vergnügt, »dass die Antwort auf meine Frage gerade eingetroffen ist.«
Es war Jahre her, dachte Niall, viele Jahre, seit er sich so gut gefühlt hatte. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit behandelten ihn die Mitglieder des Ordens wieder wie einen Mann von Bedeutung. Man brachte ihm Respekt entgegen, und er trug hohe Verantwortung; er spielte eine Rolle bei den wichtigen Ereignissen, die sich derzeit in der Großen Halle abspielten - Ereignisse, die über die Zukunft der Magie entscheiden würden. Das hätte er von dem größeren Teil des vergangenen Jahrzehnts nicht von sich behaupten können. Ein ganzes Jahrzehnt. Als er nun an einem Tisch in der dunkelsten Ecke des Schankraums im Gasthaus Kristall saß - das nach seiner Nähe zu den beiden kleinen Statuen auf den runden Türmen der großen Halle benannt war und nicht unbedingt nach der Qualität seiner Inneneinrichtung -, schüttelte Niall bedächtig den Kopf, denn er konnte nur darüber staunen, wie rasch die Zeit vergangen war. Es war zwölf Jahre her, seit er sich an Nollstra gebunden hatte, zwölf Jahre, seit er zum Eulenmeister geworden war. Und es war nun zehn Jahre her, seit Vardis gestorben war. Vardis, deren braune Augen und schwarze Locken ihn angezogen hatten wie eine Kerzenflamme die Motten, schon bei seinem ersten Besuch am Unteren Horn, dem Bereich, dem er später als Falkenmagier und Eulenmeister dienen sollte; Vardis, deren Heiterkeit und Liebe seine Tage gewärmt und seine Nächte für mehr als ein halbes Leben zum Glühen gebracht hatten. Als sie Nollstra zum ersten Mal auf seiner Schulter gesehen hatte, war sie so stolz gewesen, dass sie weinen musste.
Er erinnerte sich daran mit einer Klarheit, die diesen Abend über alle anderen heraushob. Er erinnerte sich daran, wie sie nach einer leidenschaftlichen Vereinigung dagelegen hatten und Vardis mit ihren Fingerspitzen Muster auf seine Brust gezeichnet hatte, ihre Augen groß und schimmernd im Kerzenlicht und im Glühen des Cerylls. Es war ihr nicht vollkommen gelungen, ihren Stolz auf ihn unter einem spielerischen Lächeln zu verbergen.
»Eulenmeister Niall«, hatte sie geflüstert, und das nicht zum ersten Mal an diesem Abend. »Vielleicht wirst du eines Tages der Weise Niall sein.«
Er hatte leise gelacht. »Du bist eine eitle, machtgierige Person«, hatte er sie geneckt. »Du willst nur ein großes Haus in einer großen Stadt auf der anderen Seite des Landes haben, wo Männer und Frauen zu dir kommen und gehorsam vor dir niederknien.«
»Große Städte interessieren mich nicht«, hatte sie mit gespieltem Schmollen erklärt. »Ich fühle mich hier am Unteren Horn sehr wohl. Und was den Rest angeht, nun, ich bin der Ansicht, dass ich so etwas verdient habe. Und jetzt, da du ein so wichtiger Mann geworden bist, wäre es ja wohl das Mindeste, dass sie die Große Halle hierher bringen.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, hatte er lachend gesagt. Dann hatte er sie geküsst und in viel ernsterem Ton hinzugefügt: »Für dich würde ich auch den Mond und die Sterne hierher bringen, wenn ich es nur könnte.« Sie hatte sich auf den Rücken gerollt und ihn mit sich gezogen. »Das tust du bereits«, hatte sie gemurmelt, und wieder hatten sie im Kerzenlicht mit ihrem Tanz begonnen. An diesem Punkt schreckte Niall vor seinen Erinnerungen zurück, wie er es immer tat. Denn irgendwie kam es ihm so vor, als wäre dies die letzte glückliche Nacht gewesen, die ihnen vergönnt gewesen war. Tatsächlich waren es ein paar mehr gewesen, aber nicht viele. Drei Monate später hatte Vardis über Schmerzen im Bauch geklagt und nicht lange danach begonnen, Blut zu spucken. Die Angst, sie zu verlieren, hatte ihn sofort erfasst und gezwungen, sich zurückzuziehen, bis sie beide und die Krankheit das Einzige auf der Welt waren. Es war zu früh, hatte er die Götter angefleht, sie konnten sie nicht so früh nehmen! Hätten sie ihm doch nur nicht zugehört!
Beinahe zwei Jahre lang hatte er zusehen müssen, wie sie dahinwelkte. Er hatte sich so gut wie möglich um sie gekümmert. Die Heiler waren machtlos gegen ihre Krankheit, und auch Nialls eigene Magie half nicht gegen das, was sie von innen her verschlang. Eine gewisse Zeit konnte er ihr den Schmerz erleichtern, aber
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