Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
vorteilhaft sein, sich so weit wie möglich vom Oberlord fern zu halten.«
Chev sah fragend in seinen Schirm. »Hm?«
Jibb hatte laut gedacht, eine Angewohnheit, die er ablegen musste, wenn er ein erfolgreicher Nal-Lord sein wollte. »Schon gut, Chev. Wir treffen uns heute Nachmittag im Einundzwanzigsten. Es gibt eine Bar im Block zwanzig im Südosten, die ein Leuchtbild eines Transporters im Fenster hat. Ich habe den Namen vergessen.«
»Ich weiß, welchen Laden du meinst.« Chev grinste wieder, in Reaktion auf Jibbs hochgezogene Brauen. »Ich habe auch einzige Zeit im Einundzwanzigsten verbracht«, erklärte der Mann.
»Offensichtlich«, erwiderte Jibb nun ebenfalls grinsend. »Ich erwarte, dass du bis dahin genau weißt, wo dieser Zauberer zu finden ist«, fuhr er dann wieder im Befehlston fort. »Verstanden?«
Chev nickte. »Selbstverständlich, Nal-Lord. Darel folgt ihm gerade.«
»Gut.«
»Also heute Nachmittag, Nal-Lord.«
»Heute Nachmittag. Und, Chev ...«
»Ja?«
Jibb gestattete sich ein Lächeln. »Gut gemacht.« »Danke, Nal-Lord.«
Dann war der Schirm wieder leer. Der Nal-Lord ging von seinem Schreibtisch zum Fenster, öffnete die Jalousien und sah, dass ein weiterer grauer Tag bevorstand. Es regnete, Transporter surrten vorbei und wirbelten feinen Nebel auf. Alles in allem ein typischer Frühlingstag im Nal. Außer, dass Jibb an diesem Tag - genauer gesagt an diesem Abend - einen Zauberer töten würde. Er schüttelte den Kopf und staunte wieder einmal über die unfehlbare Präzision von Melyors Spionen. Wenn sie denn ihre Informationen tatsächlich von Spionen erhielt. Es fiel ihm schwer, ihre Anfälligkeit für Aberglauben mit den Leistungen ihres Informantennetzes in Einklang zu bringen. Jibb hatte tatsächlich schon häufiger darüber spekuliert, dass es noch einen anderen Grund dafür geben könnte, wieso sie immer auf alles vorbereitet war, was im Nal geschah. Aber nie war ihm etwas eingefallen, das einer Prüfung durch gesunden Menschenverstand standgehalten hätte. Es gab eine Möglichkeit, die Jibb einerseits wahrscheinlicher vorkam als alles andere, aber sie war andererseits zu weit hergeholt, als dass man sie wirklich hätte ernst nehmen können. Selbst Melyor mit ihren scharfen Instinkten und ihrer Klugheit hätte ein so gewaltiges Geheimnis nicht so lange vor anderen verbergen können. Nicht vor jedem anderen Lord im Nal und ganz bestimmt nicht vor Cedrych.
Er schüttelte ein zweites Mal den Kopf. Es war egal, und er hatte Wichtigeres zu tun. Wieder hatte Melyor in einer Angelegenheit von gewaltiger Bedeutung Recht gehabt. Und deshalb hatte Jibb heute im Einundzwanzigsten Bezirk etwas zu erledigen.
Sobald er erwachte, wusste er, dass der Tag, auf den er gewartet hatte, angebrochen war - dass er noch vor dem nächsten Morgen entweder das Leben des blonden Zauberers retten oder bei dem Versuch sterben würde. Er befand sich in einer kleinen unterirdischen Kammer im Südosten von Bragor-Nal, immer noch unter dem Schutz des Netzwerks. Aber obwohl auch jene, die er auf dieser Seite des Mediangebirges kennen gelernt hatte, Gildriiten waren, unterschieden sie sich so sehr von den Orakeln aus Oerella- Nal wie ihre riesige Metropole von der Nachbarstadt. Die reservierte Freundlichkeit der Gildriiten von Oerella-Nal kam einem im Vergleich mit dem grüblerischen Schweigen, das im Netzwerk von Bragor-Nal herrschte, beinahe überschäumend vor. Die Gildriiten hier sprachen kaum, es sei denn, sie mussten ihm Anweisungen geben. Und selbst dann taten sie das knapp und monoton, sodass keinerlei Gefühle dahinter zu erkennen waren. Die Wachsamkeit, die Gwilym bei den Gildriiten von Oerella-Nal beobachtet hatte, war hier von einer ununterbrochenen unterschwelligen Panik ersetzt worden, sodass Gwilym bald selbst bei jedem unerwarteten Geräusch zusammenzuckte. Die Orakel von Oerella-Nal führten ihr Leben vorsichtig, die Orakel von Bragor-Nal waren von finsterer, bedrückender Angst erfüllt.
Das Verstörendste daran war, dass Gwilym das nach nur ein paar Tagen in Bragor-Nal vollkommen verstand. Selbst nach den Tagen, die er in Oerella-Nal verbracht hatte, war er vollkommen unvorbereitet gewesen auf das, was er auf dieser Seite des Gebirges vorgefunden hatte. Die stinkende braune Luft, der Dreck auf den Straßen, die ständige Gefahr von Gewalt, die er selbst in den wenigen Minuten spürte, die er oberirdisch verbrachte; all diese Dinge ließen Bragor-Nal eher wie ein Gefängnis als wie eine
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